© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 08/06 17. Februar 2006

Wissenschaftliche Katerstimmung
Rückblick auf einen Medienbrüller: Ein Jahr nach dem Erscheinen von Götz Alys "Hitlers Volksstaat" ist alle Euphorie verflogen
Florian Keyser

Aus Frankreich kehrte er erbost zurück. Diese Plünderungen, nein, das hätte es im Weltkrieg nicht gegeben. Er sei ja völlig iben. Sein Bursche hatte ihm goldene Löffel zustecken wollen, in einem Schloß geklaut."

Was lehrt dieses Zitat? Zu den "bewaffneten Butterfahrern" der großdeutschen Wehrmacht zählte der Oberleutnant der Reserve Karl Kempowski offensichtlich nicht. Der Kostümstoff, den er seinem "Getelein" 1941 mitbrachte, war daher, wie Sohn Walter Kempowski in "Tadellöser&Wolff" versichert, "ehrlich bezahlt". In der Wehrmacht als Besatzungsarmee gab es also, wie stets im wahren Leben, "soone und solche", Plünderer, Requirierer, Aufkäufer und - den 14/18er-Typus Kempowski ("immer dies Korrekte").

Man muß auf Kriegsfuß mit dem Realitätsprinzip stehen, um eine derartige Binsenweisheit zu ignorieren: freilich ein Anspruchsprofil, in das der Berliner Zeitgeschichtsbelletrist Götz Aly wie maßgeschneidert paßt. Gab er doch - ohne erkennbar eingeschränkte Schuldfähigkeit - zu Protokoll, "nach 1989 Jahre gebraucht" zu haben, um "mein Weltbild" wieder "zusammenzusetzen" (Die Zeit vom 19. Mai 2005). Immerhin überlebte Aly seine neuerliche Selbsterfindung, während manische Zweistaatler (Günter Grass: "Strafe für Auschwitz") wie etwa sein Journalistenkollege, der altgediente ARD-Zampano Dieter Gütt, Sohn des Redakteurs der Nürnberger Gesetze ("aus alten Bauerngeschlechtern der Elbinger Niederung") und Patenkind des Führers und Reichskanzlers, die letale Veronallösung favorisierten.

Als eine Art Kopernikus der NS-Historiographie inszeniert

Aly, Jahrgang 1947, wie Gütt und eine schier unübersehbare Zahl von Berufsbewältigern, Sohn eines Profiteurs der Machtergreifung, startete Ende der sechziger Jahre seine Reise ans Ende der Nacht, war Maoist und Mitglied der linksradikalen "Roten Hilfe", ein veritabler K-Gruppen-Idiot, der nur kraft charakterlicher Indolenz nicht noch weiter hinab ins RAF-Milieu abrutschte. Nachdem er derart über zwei Jahrzehnte sein persönliches Defizit an politischer Urteilskraft unter Beweis gestellt hatte, stieg er nach dem Mauerfall auf zum Redakteur des Tschekisten-Blattes Berliner Zeitung.

Zu dieser Zeit galt Aly bereits als krawalliger Außenseiter der Historikerzunft, der NS-Geschichte einem unbedarften taz-Publikum kredenzte. Die Volkszählungshysterie der frühen Kohl-Ära heizte er zusammen mit dem Ex-RAFler Karl-Heinz Roth zeithistorisch an ("Die restlose Erfassung", 1984). Mit Susanne Heim, der Enkelin des Dithmarscher Landvolkführers Claus Heim ("Bauern, Bomben, Bonzen"), wollte er unter Verwendung schlecht gefälschter Stasi-Dokumente ("Fall Oberländer") das akademische Establishment als "Vordenker der Vernichtung" (1991) entlarven. Unvergessen ist sein Tobsuchtsanfall auf dem Frankfurter Historikertag (1998), als seine Mär von der "tiefbraunen Vergangenheit" der Ziehväter von BRD-Granden wie Wehler und Kocka kritischen Einwänden begegnete.

Die sinistere Figur Aly, dessen Vita nicht selten parallelisiert wird mit dem Aufstieg Joschka Fischers aus dem semikriminellen Mief von Straßenkampf und Wohngemeinschaft, schaffte ihren ultimativen Durchbruch in den "Tagesthemen" am 10. März 2005. Eine wie stets gurrende Anne Will präsentierte den in der Mitte der "Zivilgesellschaft" angekommenen Uralt-Linken als eine Art Kopernikus der NS-Historiographie. Götz Aly habe mit seinem neuen Werk über "Hitlers Volksstaat" einen revolutionären Paradigmenwechsel in der Deutung des Dritten Reiches vollzogen. Nicht die Krupps, die Krauses seien die wahren Nutznießer des NS-Systems gewesen. Wer von den Vorteilen für Millionen einfacher Deutscher nicht reden wolle, "der sollte vom Nationalsozialismus und vom Holocaust schweigen".

Nicht mehr dem marxistischen Diktum vom "Faschismus" als Ausgeburt der am "meisten reaktionären" Kräfte des "Monopolkapitalismus" gehorchte Alys Opus, sondern der sonderbaren These, der Nationalsozialismus sei wirklich von sozialistischen Impulsen befeuert worden. Um die Massen sozialstaatlich zu befrieden und in eine "Volksgemeinschaft" umzuschmelzen, habe man Beute machen müssen - zunächst im Inland, per Enteignung der Juden, ab 1939 in ganz Europa, wobei wiederum die Juden zu den präferierten Raubopfern zählten. Letztlich sei auch die Exterminierung der Beraubten keinem "deutschen Sonderweg" oder ethnisch determinierten Judenhaß geschuldet, sondern haushaltspolitischem Kalkül. Nicht Rassenhaß, sondern Habgier entschied ihr Schicksal. In diesem Kontext zählen nicht nur die Juden Europas, sondern die Bürger aller von der Wehrmacht besetzten Staaten zu den Finanziers des megalomanen NS-Unterfangens, auch unter kriegswirtschaftlichen Einschränkungen den Deutschen eine sozialstaatliche "Wohlfühldiktatur" bieten zu können.

Die "Tagesthemen", der Werbeapparat des S. Fischer-Verlages, der Spiegel (der neben Alys eigenen Tiraden auch eine hilflose Attacke Hans-Ulrich Wehlers publizierte, die dem Angegriffenen aber eher zugute kam), ein wohlwollender Peter Richter in der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung (Ausgabe 13. März 2005) und der gänzlich enthemmte Aly-Gesinnungsgenosse und publizistische Büchsenspanner Volker Ullrich in der Zeit ("... neuer Blick auf den größten Massenraubmord der Geschichte", Ausgabe vom 10. März 2005) sorgten binnen weniger Wochen für eine grandiose Resonanz und mehrere Auflagen.

Falsche Berechnungen führten zu Alys Thesen

Als dieser Medienlärm verraucht war und Aly nicht einmal mittels einer unfreiwillig dekonstruktiven "Home-Story" in der Zeit Schaden nahm, die ihn wie eine auf der Sonnenbank mutierte Heuschrecke konterfeite (Nr. 21 vom 19. Mai 2005), meldete sich endlich die Fachwissenschaft zu Wort. Für Aufsehen sorgte schon Mitte März ein Artikel des britischen Wirtschaftshistorikers Adam Tooze (taz, 12. März 2005), der nachwies, daß Aly nur aufgrund falscher Berechnungen zur These gelange, der "Volkstaat" sei aus jüdischem Vermögen und aus den Etats der okkupierten Volkswirtschaften finanziert worden. Ähnliche Vorwürfe bündelte Wolfgang Seibel, Leiter des Forschungsprojekts der VW-Stiftung über "Holocaust und Polykratie und Westeuropa", gegen Alys "scheingenauen Bestseller" (FAZ, 25. Juli 2005). Beide Attacken wußte Aly nicht überzeugend zu parieren.

Auf den Angriff des DDR-Altkaders Kurt Pätzold (Zeitschrift für Geschichtswissenschaft, 5/05) schwieg er. Dabei begann sich mit Pätzolds Polemik an seiner Zitatfälschungen nicht scheuenden Diskreditierung des Sozialstaates die dezidiert linke Kritik einstiger ideologischer Weggefährten Alys zu formieren.

Den nächsten Stoß führten fast gleichzeitig Armin Nolzen (Sozialwissenschaftliche Literatur Rundschau, Heft 50/2005) und das Reemtsma-Sprachrohr Michael Wildt (Mittelweg 36, Heft 3/2005). Nolzen, aus bieder sozialhistorischer Deutungstradition im Geiste Timothy W. Masons kommend, verwahrt sich mit statistisch gut unterfütterten Argumenten dagegen, daß die Arbeiterschaft nach 1933 protegiert worden sei. Wer dies wie Aly behaupte, erliege der NS-Propaganda, und zwar "in einem Ausmaß, wie dies nur in Deutungen Rainer Zitelmanns oder Karlheinz Weißmanns" zu registrieren sei. Wildt wies nach, daß das Konstrukt der "Gefälligkeitsdiktatur" sich nur Alys Autismus, seiner konsequenten Ausblendung seriöser NS-Forschung verdanke. Diese primitive Zuspitzung habe der erfahrene Journalist Aly jedoch schon mit Blick auf den medienwirksamen Effekt kreiert. Aus "griffigen Formulierungen", die "in jeden Nachrichtenüberblick" passen, sei ein Verkaufsschlager, aber kein wissenschaftliches Werk entstanden. Insoweit steht Aly den von ihm verachteten, seit Jahrzehnten die Archive meidenden, schwafelnden Volkspädagogen vom Schlage Peter Steinbachs inzwischen recht nahe.

Im Herbst 2005 holten Alys Ex-Freunde in der von Karl-Heinz Roth und Angelika Ebbinghaus redigierten Zeitschrift Sozial.Geschichte (3/05) zum tödlichen Schlag aus. In "Hitlers Volksstaat", so Ebbinghaus, eigne sich der Autor das Weltbild der NS-Propaganda an, sei unfähig zur Differenzierung der Deutschen in Klassen, Schichten, Berufsgruppen. Historisch notdürftig verpackt vermittle er dabei seine zentrale politische Botschaft: "die Verbrechen der Nazis haben zu ähnlichen Folgen geführt wie gesellschaftliche Veränderungen, die mehr soziale Egalität zum Ziel hatten". Aly verfechte damit wieder ein "geschlossenes Weltbild", nur sei an die Stelle des K-Gruppen-Dogmatismus heute die Ideologie des Neoliberalismus getreten. Rüdiger Hachtmann schließt dann an Nolzen an, wenn er anhand der Lohn- und Arbeitsbedingungen nach 1933 belegt, daß bei sinkendem Lebensstandard von einer "Fürsorgediktatur" für die Arbeiterklasse nur die Rede sein könne, wenn man wie Aly "gewaltsame Vereinfachungen komplexer Konstellationen und die Unterschlagung sperriger Tatbestände" betreibe.

Neoliberale Ideologie statt K-Gruppen-Dogmatismus

Daß Aly wie nebenbei auch den "staatlichen Terrorismus" gegen die Arbeiterklasse ausblende, um die NS-Diktatur zu einem Vorläufer der BRD-Massenkonsumgesellschaft umzutaufen, sei so unerträglich wie seine Verharmlosung des "eliminatorischen Antisemitismus". Christoph Buchheim bilanziert die peinlichsten "Rechenfehler" Alys, um den Beitrag der besetzten Länder zu den deutschen Kriegslasten wesentlich niedriger anzusetzen. Thomas Kuczynski schließlich demonstriert wie "unglaublich schlampig" Aly, der sich "am laufenden Band" verrechne, gearbeitet habe. Keiner einzigen seiner "Be- und Umrechnungen" könne der Leser trauen. Folglich sei dieses Werk "aus statistischer Sicht ein Schmarren, aus ökonomischer von Sachkenntnis ungetrübt und aus sozialhistorischer sowie aktuell sozialpolitischer reine Apologie".

Foto: Götz Aly am Bücherregal in seiner Wohnung: Seine Vita wird nicht selten parallelisiert mit dem Aufstieg Joschka Fischers

Götz Aly: Hitlers Volksstaat. Raub, Rassenkrieg und nationaler Sozialismus. S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2005, 445 Seiten, gebunden, 22,90 Euro


Versenden
  Ausdrucken Probeabo bestellen