© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 09/06 24. Februar 2006

Vorzeitiger Abgang eines Kritikers
Die Öffentlichkeit ist kein Privat-Pissoir: Ein kleiner Theaterskandal in Frankfurt am Main und seine Hintergründe
Andreas Wild

In Frankfurt am Main hängt der kommunale Haussegen schief. Auf einer Nebenbühne des städtischen Schauspielhauses wurde der Kritiker der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, Gerhard Stadelmaier, während einer Premiere von einem der Schauspieler grob attackiert und beleidigt - und verließ daraufhin die Vorstellung. Nachdem er darüber in seiner Zeitung berichtet hatte, erregte sich die Oberbürgermeisterin der Stadt, Petra Roth (CDU), persönlich und setzte bei der Intendantin die "Entlassung" des angeblich allein verantwortlichen Schauspielers durch, was immer das bedeuten mag. Es hagelte Entschuldigungen und Schuldzuweisungen.

In Wirklichkeit war der betreffende Schauspieler keineswegs "allein verantwortlich". Bei der Aufführung handelte es sich um eine der üblichen Großtaten des "modernen Regietheaters", bei denen das jeweilige Stück (hier eines von Ionesco) nur noch den Titel liefert für entfesselte Pinkel- und Onanierorgien. Außerdem wurde das Publikum "einbezogen", zum Umherwandern und "Mitspielen" aufgefordert.

Stadelmaier, als ebenso einsamer wie energischer und effektiver Kritiker dieser Art Theater von den Regisseuren gefürchtet und gehaßt, sollte offenbar ganz gezielt und extra provoziert werden. Man entriß ihm seinen Notizblock, beschimpfte ihn, versuchte, ihn mittels horrender Unappetitlichkeiten zu demütigen. Da ging er also. Er spielte nicht mit. "Ich gehöre nicht zum Theater, ich gehöre zur Öffentlichkeit", schrieb er in seinem Bericht.

Aber ist Theater, öffentlich subventioniertes Theater, nach klassischem Begriff nicht auch Öffentlichkeit, sogar besonders herausgehobene und wichtige Öffentlichkeit? Das Verhalten Gerhard Stadelmaiers war aller Ehren wert. Aber er hätte, kann man sich vorstellen, auch aufstehen und noch im Theater eine mächtige Philippika gegen die freche Umwandlung des öffentlichen Raums in ein privates Pissoir halten können. Die Vorstellung wäre dann vielleicht sogar noch gut oder wenigstens interessant geworden.


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