© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 09/06 24. Februar 2006

Ohne Verklärung
Erinnerung an 1989
Ekkehard Schultz

Vor über 15 Jahren wurde die staatliche Vereinigung der beiden deutschen Teilstaaten vollzogen. Mittlerweile wächst bereits eine Generation heran, welche die deutlichsten Symbole dieser Zeit, die mit Mauer und Stacheldraht gesicherten Grenzbefestigungen, die über Jahrzehnte das Land zerschnitten, nur noch vom Hörensagen und aus der Lektüre kennt.

Doch gerade in den vergangenen beiden Jahren wurde deutlich, daß der Überwindung der sichtbaren Relikte der Teilung die sprichwörtliche "Vereinigung in den Köpfen" immer noch weit hinterherhinkt. Die nach wie vor vorhandenen Unterschiede in der Entlohnung, die weit höhere Arbeitslosigkeit in den neuen Bundesländern, die größere Betroffenheit der dortigen Bürger von der Sozialgesetzreform Hartz IV sowie die herausgehobene Behandlung des Themas Rechtsextremismus und Fremdenfeindlichkeit in Mitteldeutschland stehen nur für einige Bereiche, in denen in Krisensituationen immer wieder gerne auf alte Denkschablonen zurückgegriffen wird. Hinzu kommt die mehr als peinliche "Ostalgiewelle", bei der oftmals zwischen freudigen Ereignissen aus dem Privatleben und den gesellschaftlichen Zuständen in einer Diktatur nicht mehr unterschieden und damit der gefährlichen Rehabilitierung eines glücklicherweise untergegangenen Systems durch die politisch daran interessierten Kräfte Tür und Tor geöffnet wird.

Der Sammelband "GrenzFall Einheit" - letzten Herbst im Leipziger Forum-Verlag erschienen - ist gerade jenen zu empfehlen, die zu derartigen Verklärungen neigen. Entstanden ist das Buch aus einem Aufruf der Herausgeberinnen im Sommer 2004 in Sachsen, die die dortige Bevölkerung zum Verfassen kurzer Beiträge über die Erinnerung an den 9. November 1989, die mit ihm verbundenen Hoffnungen und Befürchtungen sowie die heutige Realität aufforderten. Herausgekommen ist ein äußerst vielschichtiges Porträt aus jüngster Vergangenheit, welches ohne Verklärung auskommt, sondern nüchterne Analysen mit reichlichem individuellem Kolorit vereinigt. Menschen unterschiedlichster Berufszweige und Jahrgänge liefern ein Sittenbild unserer Zeit, dessen Bedeutung in naher Zukunft wohl noch weit besser als heute eingeschätzt werden kann.

Gerade wegen der Heterogenität und Authentizität der Beiträge, aber auch wegen der kurzen und knappen Darstellungsform der siebzig Aufsätze, Porträts und Gedichte ist das Buch einer großen Leserschaft vermittelbar. Nur das Wissen über die Gründe zur Einheit beugt nämlich oft schon jeder "Ostalgie" vor.

Constanze John, Kerstin Schimmel, Hrsg.: GrenzFall Einheit - Zwischenberichte aus Sachsen. Forum-Verlag, Leipzig 2005. 208 Seiten, broschiert, Abb., 14,80 Euro


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