© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 10/06 03. März 2006

Generalprobe für den Bürgerkrieg
Irak: Nach dem Anschlag auf das irakische Schiiten-Heiligtum von Samarra wird über die Urheber wird spekuliert
Peter Lattas

Es war die Generalprobe für den kommenden irakischen Bürgerkrieg: zweihundert Tote in den ersten drei Tagen, weitere vierzig am Wochenende, bewaffnete Angriffe auf weit über hundert - meist sunnitische - Moscheen. Die Eruption der Gewalt nach dem Bombenanschlag auf die "Goldene Moschee" von Samarra hat den Irak dem als Folge der US-Intervention befürchteten Zerfall ein Stück näher gebracht. Letzten Dienstag wurde dann das Mausoleum für den Vater von Ex-Präsident Saddam Hussein in Tikrit (180 Kilometer nördlich von Bagdad), in die Luft gesprengt. Und die mörderischen Bombenanschläge - speziell in Bagdad - reißen nicht ab.

Der Tag ist absehbar, an dem sich die nur in feindseligem Mißtrauen vereinten, rivalisierenden und koalierenden schiitischen, sunnitischen und kurdischen Führer nicht mehr in letzter Minute darauf einigen können, um des eigenen Vorteils willen die Lunte am Pulverfaß noch einmal auszutreten.

Die Bomben platzten mitten hinein in die noch immer nicht abgeschlossene Regierungsbildung. Haupthindernis bei der Bildung der von der Besatzungsmacht favorisierten Allparteienregierung der nationalen Einheit sind die Ansprüche der dominierenden Schiiten. In deren religiöses Herz zielte der Anschlag auf das Heiligtum von Samarra, Begräbnisort zweier der zwölf von den Schiiten als rechtmäßige Nachfolger des Propheten verehrten Imame.

Der erwartbare schiitische Zornesausbruch eskalierte so rasch, daß die geistlichen Autoritäten zwischenzeitlich die Kontrolle über die schiitischen Massen verloren, die trotz ausdrücklichen Verbotes durch Großajatollah al-Sistani sunnitische Moscheen angriffen. Eindringlich warnte der kurdische Staatspräsident Dschalal Talabani vor der Bürgerkriegsgefahr; auf kurdischer Seite mehren sich die Stimmen, die eine Abkehr vom Gesamtstaat fordern, sollte der schiitisch-sunnitische Konflikt in die Schaffung eines islamistischen, womöglich iranisch beeinflußten Gottesstaates münden.

Das Rätselraten um die Verantwortlichen gestaltet sich im verschwörungstheoriefreudigen Orient erwartungsgemäß ebenso phantasievoll wie verwirrend. Cui bono - wem nützt es, und wer steckt dahinter? Abu Mussab al-Sarkawi, der "al-Qaida" zugeschriebene Top-Terrorist, vermuten die meisten westlichen Beobachter.

Sarkawi versucht schließlich schon seit Sommer 2003, durch Anschläge auf deren Geistliche und Heiligtümer die Schiiten zu Racheakten gegen die Sunniten zu provozieren. Die Handschrift des Attentats, an dem mehrere nichtirakische Araber beteiligt waren, spricht für Sarkawi, die geringe Opferzahl dagegen - die Bombe explodierte eine Viertelstunde nach dem Morgengebet.

Sarkawi kontert per Internet, die "Apostatenregierung" des schiitischen Ministerpräsidenten Ibrahim al-Dschaafari habe die Bombe selbst gelegt, um einen Vorwand zum Vorgehen gegen die Sunniten zu haben. Ähnlich denken auch deren politische Führer, die der von Schiiten beherrschten amtierenden Regierung vorwerfen, die Übergriffe auf ihre Glaubensgenossen provoziert zu haben. "Zionisten und Besatzer" vermutet dagegen das Teheraner Regime hinter den Anschlägen, sprich Israel und die USA; Abdalaziz al-Hakim, Chef des "Obersten Rats für die Islamische Revolution im Irak" (Sciri), dessen Badr-Miliz das Innenministerium und die Sicherheitskräfte kontrolliert und von den Sunniten verdächtigt wird, regelrechte "Todesschwadronen" gegen sie auszusenden, stößt ins selbe Horn: Durch seine permanente Kritik habe US-Botschafter Zalmay Khalilzad (Muslim und einst Mitglied in der neokonservativen Denkfabrik PNAC), der die von seinem Land gesponserten Sicherheitskräfte gerne in neutraleren Händen sähe, die Terroristen erst ermutigt.

Vielleicht denkt mancher auch an die dubiose Affäre um britische Soldaten, die die irakische Verwaltung vergangenen Herbst in Basra in Zivil bei der Vorbereitung eines Anschlags verhaftet haben will und die von ihren Kameraden mit Brachialgewalt aus dem Gefängnis befreit worden waren.

Der radikale schiitische Prediger Muktada al-Sadr dagegen, dessen Mahdi-Miliz maßgeblichen Anteil an den Racheakten gegen Sunniten hatte, erging sich zuletzt in Versöhnungsappellen; er rief zu einer gemeinsamen Demonstration gegen "die Besatzer", gegen Alt-Baathisten und "al-Qaida" auf, denn diese seien "das Messer, mit dem die Besatzer zustechen". Auch der wachsende iranische Einfluß ist Sadr, der zu den "Königsmachern" beim Aufstieg des designierten Regierungschefs Dschaafari zählte, inzwischen suspekt.

Als gescheitert sehen die meisten Beobachter nach dieser Gewaltorgie die Strategie der Besatzungsmächte an, durch die Bildung einer Allparteienkoalition auch die gemäßigten Sunniten einzubinden. Das Mißtrauen aller gegen alle hat sich in einem Ausmaß verfestigt, das diese Option kaum noch realistisch erscheinen läßt.

Paradoxerweise hat das Gleichgewicht dieses Mißtrauens die Eruption vorderhand wieder heruntergekühlt; noch will keiner dem Egoismus des anderen das Feld ganz überlassen. Für eine übergeordnete Staatsidee ist zwischen Privatarmeen und Todesschwadronen, Intrigen und Übervorteilungen freilich kein Platz. Die Bruchlinien, entlang derer sich der Irak in seine ethnischen und religiösen Bestandteile zerlegen könnte, sind schärfer geworden.

In der Nachbarmoschee des gesprengten Heiligtums verehren die Schiiten den Ort, an dem "der verborgene" zwölfte und letzte Imam "al-Mahdi" durch das "Tor des Verschwindens" entrückt worden sein soll, um dereinst als Heilsbringer wiederzukehren und die Menschheit vom Chaos zu befreien. An der Wiederherstellung der Ordnung im Zweistromland könnte sich indes selbst ein Mahdi die Zähne ausbeißen. Aber der kommt ja erst am Jüngsten Tag.

Foto: Zerstörte Moschee in Samarra: Sabotage der Regierungsbildung


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