© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 10/06 03. März 2006

Wütende Dämonen
"Das bist du selbst": Hans-Christian Schmids Film "Requiem" zeigt Mut zur inhaltlichen Tiefe
Martin Lichtmesz

Anneliese Michel starb am 1. Juli 1976 an Erschöpfung und Unterernährung im Hause ihrer Eltern in Klingenberg am Main. Die 23jährige Studentin hatte ihren 67. Exorzismus hinter sich, vollzogen von zwei katholischen Priestern, die mit bischöflicher Genehmigung handelten. Das im strenggläubigen Milieu aufgewachsene Mädchen litt unter zwanghaften Tobsuchtsanfällen, entwickelte einen infernalischen Haß auf Kruzifixe und Rosenkränze, sah diabolische Fratzen und hörte bösartige Stimmen, vertilgte Insekten, Kohlestücke, und Fäkalien.

Nach ihrem grausigen Tod wurde sie ähnlich der Therese von Konnersreuth in einzelnen katholischen Kreisen als Heilige verehrt. Eine Nonne hatte eine Vision von ihrem mirakulös unverwesten Körper. Die Exhumierung des Leichnams ergab nichts Wundersames. Annelieses Geschichte jedoch blieb ein umstrittener Favorit unter den Anhängern des Okkulten und Unheimlichen.

Nun sind beinahe gleichzeitig zwei Filme entstanden, die auf dem "Fall Klingenberg" basieren. Die bereits im November angelaufene US-Produktion "Der Exorzismus der Emily Rose" und Hans-Christian Schmids "Requiem". Anneliese heißt in Schmids Film Michaela Klingler. Trotz des Widerstandes ihrer fatalistisch-besorgten Eltern beginnt die an epilepsieartigen Anfällen leidende junge Frau ein Pädagogik-Studium in Tübingen. Bieder gekleidet, fleißig und tiefgläubig macht das Provinzgewächs einen eher peinlichen Eindruck unter den modisch kurzberockten Studentinnen. Nichtsdestotrotz gewinnt sie die Freundschaft ihrer Studienkollegin Hanna (Anna Blomeier), lernt Rockmusik zu schätzen und verliebt sich glücklich.

Ihre fragile Gesundheit ist jedoch ständig gefährdet. Unversehens verwandelt sie sich in ein wimmerndes Bündel voll panischer Angst. Ihre Anfälle lassen sich nur dürftig mit Medikamenten unter Kontrolle halten, Ärzte konsultiert sie schon lange nicht mehr, den Besuch eines Psychiaters verweigert sie hartnäckig.

Schmid inszeniert ihre Zusammenbrüche ohne jegliche "Hirnfilm"-Effekte à la "Das weiße Rauschen". Der Zuschauer sieht und hört die Stimmen und Fratzen nicht, die Michaela erbarmungslos verfolgen. Ein alter Pfarrer, dem sie sich offenbart, kränkt sie durch seine Ungläubigkeit, sein jüngerer Kollege hingegen beginnt sie mit Heiligenlegenden aufzustacheln. Michaelas mühsam aufrechterhaltene Balance geht schließlich in einer Spirale von Angst und Wahnsinn unter. Eingesperrt im Haus ihrer Eltern, wird sie den Exorzismen ausgesetzt, die zu ihrem Tod führen werden.

Anders als "Der Exorzismus der Emily Rose" hat Schmids Film wenig mit dem genreprägenden Schocker "Der Exorzist" (1973) zu tun, der im selben Jahr gedreht wurde, als Anneliese Michel ihr Studium begann. Eine weitaus größere Nähe besteht zu John Cassavetes' Meisterwerk "Eine Frau unter Einfluß" (1974). In einer ähnlichen tour de force wie Schmids Hauptdarstellerin Sandra Hüller spielte Gena Rowlands die manisch-depressive Mutter dreier Kinder, die aufgrund der wohlwollenden, aber unsensiblen Einkreisung durch ihre Familie erst recht in den psychischen Zusammenbruch getrieben wird.

Wie Cassavetes ergründet Schmid Mechanik und "Teufels"-Kreis der "Politik der Familie", wie es der Guru der Anti-Psychiatrie der 1970er Jahre, Ronald D. Laing, bezeichnete. Auch stilistisch folgt Schmid den Spuren Cassavetes': eine nervöse Handkamera und hektische Zooms begleiten Michaelas Anfälle, die sich in dem Maße steigern, in dem ihre Eltern sie mit ihrer verständnislosen Sorge geradezu ersticken.

Es ist paradoxerweise gerade die aufgezwungene religiöse Hilfe, die Michaela über die Klippe stößt. Ihre heftigen Abwehrreaktionen auf die das Böse eher invozierenden als bannenden Gebete des jungen Pfarrers sind weniger dämonisch als nur allzu verständlich. Hier ist auch der Angelpunkt, von dem aus sich die Situation zu einer sich selbst erfüllenden Prophezeiung, einer folie à quatre zwischen Michaela, ihren Eltern und dem Exorzisten entwickelt. Am Ende geht sie mit dem Bewußtsein in den Tod, für einen höheren Sinn zu leiden.

"Requiem" ist kein antiklerikaler oder antireligiöser Film, noch will er die katholisch-konservative Provinz generell als pathogenes Milieu denunzieren. Wenn auch bisweilen Michaelas kalt-abweisende Mutter (Imogen Kogge) und Pfarrer Borchert (Jens Harzer) als die wahren Teufel erscheinen, so versteigt sich Schmid niemals in platte "Erklärungen", obwohl seine Skepsis gegenüber der "Mechanik des Wunders", wie einer seiner frühen, themenverwandten Filme heißt, offensichtlich ist.

Was eine Psychose tatsächlich ist, vermag letzten Endes kein Mensch zu sagen. Die Verdammnis, in die sie den Kranken stößt, ist zumindest auf dieser Welt ein empirisches Faktum. "Das bist du selbst", sagt Michaelas Freundin, und meint die inneren Dämonen, die ihr das neue Leben fernab der familiären Enge nicht gönnen, die sich im Unbewußten gegen den Druck der religiösen Erziehung auflehnen. Szenen, in denen Michaela selbstvergessen in einer Disco tanzt, zeigen diese Ambivalenz: der Tanz ist lebensfrohe Befreiung und manische Besessenheit zugleich.

Dennoch ist diese Erkenntnis gänzlich nutzlos. Die "Dämonen" der Psyche sind autonom und subjektiv real. Die religiöse Sinngebung liegt nahe, erscheint aber bei Schmid als verzweifelte Suggestion. Der Schrecken und die Ausweglosigkeit psychischer Krankheit sind selten so beklemmend in einem Film zu sehen gewesen.

Was "Requiem" darüber hinaus zu einem erfreulichen Ereignis macht, ist die Tatsache, daß es sich hier endlich einmal wieder um einen guten deutschen Spielfilm handelt. Der wirklich große Wurf ist es allerdings noch nicht. Die meisten Nebenfiguren sind eher oberflächlich gezeichnet, die Farbgebung im Stile alter Fotografien wirkt manieriert, außerdem endet der Film etwas zu abrupt.

Er hat aber einen Mut zur inhaltlichen Tiefe, der den meisten deutschen Produktionen fehlt: diese oszillieren in der Regel zwischen "sozialdemokratischen Beziehungskisten" (Reinhard Hauff) und fernsehkompatiblen Nazischinken. Da jedes Volk die Politiker und die Filme hat, die es verdient, sollte das nicht verwundern, ebensowenig wie die Tatsache, daß die vitalsten Filme in Deutschland von Türken wie Fatih Akin gemacht werden.

In der schon sprichwörtlichen Öde und Harmlosigkeit des heimischen Kinos ist "Requiem" jedenfalls ein Lichtblick. Völlig zu Recht wurde die 1978 in Suhl geborene Debütantin Sandra Hüller auf der 56. Berlinale für ihre schauspielerische Leistung mit dem "Silbernen Bären" und zuvor bereits mit dem Bayerischen Filmpreis als beste Nachwuchsdarstellerin ausgezeichnet.

Michaelas Anfälle steigern sich in dem Maße, in dem ihre Eltern sie mit ihrer verständnis-losen Sorge geradezu ersticken.

Bei "Requiem" handelt es sich endlich wieder einmal um einen guten deutschen Spielfilm. Der wirklich große Wurf ist es allerdings noch nicht.

Foto: Michaela (Sandra Hüller) zwischen Pfarrer Landauer (Walter Schmidinger) und Pfarrer Borchert (Jens Harzer): Über die Klippe gestoßen


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