© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 10/06 03. März 2006

Straßenkunst: Früher Provokation, heute Marke einer ganzen Generation
Urban Art - Kunst des Überlebens
Christoph Martinkat

Da war sie wieder die "6", diese mit Wandfarbe in Weiß hingeworfene "6". Sie stand auf einem Wahlplakat der FDP. Vorher an vielen Häuserwänden und Hauseingängen, auf Verteilerkästen und an den Scheiben leerer Ladenlokale, auf Gasherden, Toilettenbecken oder was sonst alles auf der Straße stand. Ihr Maler war damals in aller Munde, zumindest in Berlin. Man nannte ihn - weil man nichts anderes von ihm wußte - einfach den "Sechsenmaler".

Das war Mitte der 1990er Jahre. Ost-Berlin glich einem Totalsanierungsgebiet. Die wenigen frisch renovierten Häuser machten das Grau der heruntergekommenen noch unerträglicher und die frisch gemalten, hellen Sechsen an den Fassaden besonders augenfällig. Das Ganze nannte sich Street- oder Urban-Art und kam aus New York.

Heute ist Urban Art mehr als illegale oder legale Graffitikunst und auch deshalb salonfähig geworden. Die Sprayer, Schablonen- und Sechsenmaler der Generation X sind erwachsen geworden. Sie haben entweder aufgehört, ihre iko-nographischen Botschaften im öffentlichen Raum zu verbreiten oder sind mittlerweile selbst Teil des Kunstmarkts geworden, mit all seinen Konsequenzen. Es war für die einen die Entwicklung einer eigenen graphischen Sprache, für die anderen die ästhetische Mitgestaltung des Stadtbilds, für wieder andere die Möglichkeit, weltanschauliche oder private Haltungen in die Öffentlichkeit zu tragen. Diese Heterogenität und Offenheit sorgten dafür, daß die Urban Art selbst in ehedem kunstfeindliche Wirklichkeitsbereiche Eingang fand.

Urban Art von heute ist eine universell einsetzbare Marke, die das Lebensgefühl einer ganzen Generation widerspiegelt: vom Comic oder Plüschtier-Unikat bis zur Urban-Designkollektion großer Modefirmen. Es steht für die Lebenswirklichkeit einer Generation von Großstädtern, die reich an Ideen, aber arm am Beutel ist. Die mit Vitalität, Improvisationsgeist, engem Budget und einem Schuß Selbstironie etwas Eigenes auf die Beine stellt, statt die Schar der ewig auf Anstellung hoffenden und darin immer wieder enttäuschten der "Generation Praktikum" zu vergrößern.

Urbane Kunst in einem solchen Sinne ist also Bauprinzip eines Lebensentwurfs, das der transzendentalen Ob-dachlosigkeit entgegenwirkt, indem es den Grundstein zum selbstverwirklich-ten Obdach legt. Sie betrifft eine Generation, die von der Politik nichts zu erwarten hat und einzig von Freunden und Familie unterstützt wird, sachlich, aber vor allem finanziell.

Unter diesem Aspekt gesehen, ist Urban Art in einer Metropole wie Berlin buchstäblich alles: Ein Ladenlokal, in dem man sein eigenes Büro hat ebenso wie eine kleine Agentur oder einen Sandwichladen, den man mit Hilfe von Freunden hochzieht.

Aspekte der Urban Art als Kunst und Lebensgefühl findet der Beobachter fast überall: im kleinen Friseurladen an der Ecke, bei Mode- und Schmuckgestal-tern, in Hinterhofgalerien, in Szene-Clubs und -Cafés. Die künstlerischen Hervorbringungen dieser Lebensart sind exemplarisch in einem Ladenlokal im Prenzlauer Berg zu bewundern, im "Supalife-Kiosk" am Helmholtz-Platz.

Ausgeprägte Netzwerke in engmaschigen Soziotopen

Während dort kürzlich die amerikanische Schauspielerin Angelina Jolie achtlos vorüberschritt, wird der interessierte Zeitgenosse erst in Läden wie dem von Gabriele Zygor fündig. Die studierte Kommunikationsdesignerin bietet in ihrem Kiosk alles, was die neue Urban Art ausmacht. Von den politisch inkorrekten, handgefertigten Bimbo-Dolls des Ex-Sprayers Boris Hoppek, über Street-Art-Grafiken auf Umzugskartons bis hin zu Siebdruckarbeiten auf Abdeckplanen, die zu Tragetaschen umfunktioniert worden sind. Von selbstentworfenen Comics und Grafiken in Taschenbuchformat über diverse Bilder und Installationen aus Mixed Media hin zu Quartett-Kartenspielen und Bastel-bögen mit den Motiven der Berliner Dönerbuden oder Plattenbauten.

Der "Supalife-Kiosk" stellt jedoch nicht nur Produkte der Urban Art aus, sondern funktioniert selbst nach deren Strukturen. Er gehört zu einem De-signerbüro mit dem Namen Filesharing, das vom Kommunikationsdesign bis zur Animation alles anbietet, um überleben zu können. Laden und Büro folgen damit der Grundprämisse urbaner Überlebensstrategie in Berlin: Das Verwirklichen kreativer Ideen gelingt nur aufgrund ausgeprägter Netzwerke in engmaschigen Soziotopen, frei nach dem Motto: arm, aber sexy.

Foto: Supalife-Kiosk: Puppen aus Stoff und auf Karton. Enttabuisiertes Spiel mit Symbolen, Bildern und Ideologien.

Internet: www.supalife.de


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