© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 11/06 10. März 2006

Welkende Blütenträume
Große Koalition I: Nach den Feierlichkeiten aus Anlaß der ersten 100 Tage warten auf das Kabinett Merkel die Niederungen des Alltags
Heinz Klaus Mertes

So schnell kann in Medien-Deutschland die Stimmung wechseln. An Rosenmontag noch verkündete der Spiegel, zuständig immer noch für das Bewußtsein der Woche, das "Land des Lächelns" auf dem Titel. Am Aschermittwoch dann goß die Bild bitteres Wasser in den Wein der ersten hundert Tage Kanzlerin und große Koalition - mit der übergroßen Schlagzeile: "Fünf Millionen - das sind jetzt Ihre Arbeitslosen, Frau Merkel." Die doppelte Wahrheit beleuchtet die Unausgegorenheit der politischen Situation.

Ihre beiden Vorgänger in der Kanzlerschaft, in deren Zeit sie erst Politik lernte, dann machte, hatten nicht einen so allseits gelobten Start. Helmut Kohl brauchte viele seiner insgesamt rund 6.000 Kanzlertage, um als politisches Machtphänomen besonderer Güte im Inneren und Äußeren anerkannt zu werden. Gerhard Schröder quälte sich in den Anfangsjahren durch eine schier endlose Kette nerviger Nachbesserungen, ehe der Mediengewandte seine Statur gewann.

Deutschlands erste Kanzlerin, Angela Merkel, reüssierte mit ihrem Start in ungeahnter Weise und wie keiner ihrer Vorgänger: Die ersten 100 Tage ihrer femininen Regentschaft haben aus der deutschen Griesgramgesellschaft ein - wie der Spiegel titelte - "Land des Lächelns" gemacht. Einerseits wird man sich vom Reformstreit auch einmal ausruhen dürfen. Der Zauber des neuen Anfangs verdient weder Mystifizierung noch Mythos: Die Große Koalition der Kanzlerin hat so gut wie keine Opposition - mag FDP-Chef Guido Westerwelle seine Rhetorik noch so sehr anspannen, die Grünen den politischen Pfründen nachtrauern und das Gespann Gregor Gysi und Oskars Lafontaine in allen populistischen Gassen dampfen. Plätschernde Wellen, durch die der Großkonvoi bei mäßiger Fahrt seine Bahn zieht. Und die Medien? Auch sie brauchen eine effektive Opposition, damit ihr Pulver zündet.

Nicht zuletzt war die gute Anfangsstimmung der Tatsache zu verdanken, daß man das grün-rote Regimegehabe in Deutschland und außerhalb wohl gründlich satt hatte. Mit einem politkulturellen Aufatmen wurden die 98er Matadore in den Orkus der Vergessenheit gerückt, als habe es sich um den zeitweisen Besuch von Außerirdischen gehandelt.

Zur Politik selbst: Einiges hat die Merkelsche Großkoalition in den ersten Monaten richtig gemacht, vor allem aber hat sie bisher nichts richtig falsch gemacht. Perfekt, wie die außenpolitischen Räsonlinien schnell und ohne Tamtam neu konturiert wurden. Die Deutschen danken es ihrer Kanzlerin mit demoskopischen Superprämien. Weit unspektakulärer, aber tragend ist die Alltagsleistung, aus dem unvermuteten Beieinander von Union und SPD ein politisches Miteinander hinzubekommen. Bislang gelingt es, wenn auch unter gelegentlich leisem Knirschen und auch um den Preis der Ausklammerung von polarisierenden Richtungsentscheidungen. Die "Kuschelkoalition" kennt keine Parteien mehr, sondern nur noch reformmüde Deutsche. So lächelt Deutschland in der Tat recht entspannt in den Tag, während der Gletscher ungelöster Probleme unerbittlich näherrückt.

Handlungsbedarf bei der Gesundheitsreform

Ein Menetekel, daß etwa der jetzt vorgelegte Bundeshaushalt so geräuschlos durchging, obwohl er mit dem fürchterlichen Doppelrekord in Neuverschuldung und gleichzeitiger finanzieller Schröpfung dem Land den Atem abschnürt. Den akuten Handlungsbedarf in Sachen Gesundheitsreform hat die Kanzlerin zwar betont, aber erst einmal bis nach den Landtagswahlen in Sachsen-Anhalt, Rheinland-Pfalz und Mecklenburg-Vorpommern am 15. März vertagt.

Sonst würde wohl schon heute das Zähneklappern, das Hessens Ministerpräsident Roland Koch (CDU) den Deutschen prognostizierte, die Laudationes empfindlich stören. Merkel hat sich den Schub an Zustimmung verschafft, indem sie vordem glühend verfochtene Positionen ohne viel Federlesens räumte. Dafür zahlt sie einen Preis, nämlich den, daß sie bei aller aktuellen Sympathie zur politischen Sphinx wurde. Wo eigentlich will sie hin? Die so glatt absolvierte erste Wegstrecke gibt Rätsel auf. Der politische Frühling nach dem Wahlsonntag des 15. März wird kein linder Lenz sein, Stunden der Wahrheit dürften Blütenträume der kleinen Schritte frühzeitig verwelken lassen.

 

Heinz Klaus Mertes, Journalist und ehemaliger TV-Moderator, war Fernseh-Chefredakteur des Bayerischen Rundfunks und Programmdirektor bei Sat 1.

Foto: Angela Merkel (CDU): Die Bundeskanzlerin hat sich einen Schub an Zustimmung erworben


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