© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 11/06 10. März 2006

Die asymmetrische Erinnerung
Berlin und Warschau finden nicht zueinander - selbst deutsche Geschichtsverleugnung erspart Polen nicht die eigene historische Aufarbeitung
Matthias Bäkermann

Die Interpretationen waren schon immer höchst unterschiedlich. "Als wir uns 1993 in Danzig als die drei Staatspräsidenten des ins Leben gerufenen 'Weimarer Dreiecks' trafen, beherrschten drei völlig unterschiedliche Themen die Debatte: Präsident Lech Walesa sprach, und zwar ausschließlich, über den doch recht bald zu vollziehenden Nato-Beitritt Polens, der französische Präsident François Mitterrand insistierte mit gleicher Vehemenz, daß die in der gerade beratenden 'Uruguay-Runde' auf der Agenda stehende Zollreduktion englischsprachiger Software bitteschön von Polen unterstützt werden solle - und ich versuchte, über das 'Weimarer Dreieck' zu sprechen." Mit leiser Ironie steuerte Altbundespräsident Richard von Weizsäcker diese Anekdote der Abschlußkonferenz "Erinnerung im Dialog" in Genshagen (JF 9/06) bei, um das an dem Tag ebenso oft wie überschwenglich beschworene "Weimarer Dreieck" zu karikieren.

In Polen pflege man weiterhin die geschichtliche Opferrolle

Dieser diplomatisch verpackte Wink von Weizsäckers rief spürbar Verlegenheit bei der anwesenden deutsch-polnischen "Versöhnungselite" hervor. Vielen war eben bewußt, daß trotz aller Beteuerungen der Gemeinsamkeiten, allem bekundeten guten Willen, einen erinnerungspolitischen Konsens zu finden - und sei es nur in der kollektiven Ablehnung des Zentrums gegen Vertreibungen, des Bundes der Vertriebenen (BdV) insgesamt und besonders Erika Steinbachs -, am Ende doch nicht mehr stehen wird als leere Floskeln. Darüberhinaus entlarvt seine kleine Episode überdeutlich, daß bei den Nachbarn scheinbar doch die nationalen Belange Priorität gehabt haben - doch das dürfte weder den meisten anwesenden Deutschen noch von Weizsäcker selber überhaupt aufgefallen sein. Wie die teils aufgeregte Reaktion der letzten Zeit in Polen belegt, darf man mindestens beim Thema "Erinnerung" diese Interessenrangfolge auch heute noch konstatieren.

Neben der Irak-Frage hat gerade die Auseinandersetzung um das in Polen weitestgehend verleugnete Erbe des Vertreibungsunrechts nach 1945 die Beziehungen zwischen Warschau und Berlin "immer schlechter werden lassen", so daß das "Deutsch-Polnische Jahr 2005/2006" geradezu als "Feuerwehr" benutzt worden sei, um diese "zu retten", wie in Genshagen ein Warschauer Nachwuchshistoriker ebenso indiskret wie treffend analysierte. Doch warum ist diese Beziehung derart verfahren? Sind an der Weichsel die Ängste vor einer in Deutschland politisch völlig isolierten und deshalb eher unbedeutenden Initiative wie der Preußischen Treuhand derart groß, daß sie sogar einen Paradigmenwechsel der polnischen Außenpolitik rechtfertigen? Die deutsche Diskussion über den Umgang mit der Erinnerung an eine der größten nationalen Katastrophen, wie es die Vertreibung von mehr als 15 Millionen Landsleuten und der Verlust eines Viertels seines seit vielen Jahrhunderten besiedelten Territoriums nun einmal für Deutschland darstellt, müßte eigentlich doch selbstverständlich sein. Wie kann sie Anlaß dazu geben, daß Warschaus sogar das Verhältnis zum wichtigsten Bündnis- und größtem Wirtschaftspartner gefährdet? Der Ballast der Geschichte müßte dort demzufolge erdrückende Dimensionen haben.

Wie der polnische Publizist und Deutschland-Kenner Adam Krzeminski jüngst treffend bemerkte, ist der Kontrast zwischen den "Nationalkulturen" allein aufgrund der Erinnerungspolitik völlig unterschiedlich geprägt. Während Deutschland nach 1945 "stark vom Bewußtsein der deutschen Kriegsschuld beziehungsweise der deutschen Kriegsverbrechen dominiert" werde, pflege man in Polen "die Opferrolle und das Gedenken an den heldenhaften Widerstand der Kriegsgeneration, bei gleichzeitiger Bagatellisierung der dunklen Kapitel der eigenen Geschichte im zwanzigsten Jahrhundert".

Dabei wurden in den letzten Jahrzehnten die von Krzeminski angedeuteten Empfindlichkeiten in Polen von offizieller deutscher Seite politisch, kulturell und wissenschaftlich kaum provoziert. Das Gegenteil ist der Fall: Viele historische Einrichtungen, das Marburger Herder-Institut, das Deutsche Polen-Institut in Darmstadt, in besonderem Maße jedoch das Deutsche Historische Institut (DHI) in Warschau interpretieren ostdeutsche Geschichte im Zweifel polonophil. Deutsche Kulturlandschaften wie Ostpreußen oder Schlesien werden "im Zeichen der Verständigung" neu bewertet, das heißt "multikulturalisiert", die Kontinuität der aggressiven Germanisierungspolitik Preußens und die Opferrolle Polens gerne hervorgehoben.

In dieser geschichtspolitischen Konsequenz hat die Rechtfertigung des tragischen Finales der deutschen Ostprovinzen als verständliche Folge Hitlerschen Größenwahns mittlerweile sogar flächendeckenden Einzug in deutsche Schulbücher und Seminare der Universität gehalten. Oder wie es vergangene Woche die Journalistin Helga Hirsch in der Welt ausdrückte, es treten "sozialliberale deutsche Gutmenschen in pädagogische Vorleistung gegenüber Polen und bestärkten sie damit in ihren Versuchen, ihre Geschichte erpresserisch gegenüber Deutschland einzusetzen".

Unter dieser Voraussetzung erfährt die historische Aufarbeitung der polnischen Geschichte, bei der laut dem Warschauer Historiker Feliks Tych "der Zensor der Gesellschaft" wache, inwieweit es noch "dem nationalen Ego schmeichele", nicht unbedingt Schützenhilfe deutscher Historiker. Einen Ausblick, daß noch vieles in polnischen Archiven schlummert, was diesem "nationalen Ego" tatsächlich nicht schmeichelt, konnte der Historiker und ehemalige Präsident des Institutes des Nationalen Gedenkens, Leon Kieres, eröffnen. So hat er einiges zutage gefördert, was auf Verbrechen an Deutschen und Juden in den dreißiger und vierziger Jahren schließen lasse. Das habe ihn in Polen jedoch öffentlicher Kritik ausgesetzt. Er "besudele das Gedächtnis der Gemeinschaft" indem er "diese Einzelfälle gegen das Leiden der polnischen Nation" stelle. Kieres sieht diese haßerfüllten Angriffe mit der "Angst der polnischen Seele vor der Revision" begründet. Ohne auf die korrekten Termini von "Umsiedlern auf dem Territorium der Republik Polen im Jahr 1945" zu verzichten, erwähnt Kieres bei der Genshagener Konferenz die in Archiven vom ihm gesichteten Dokumente "schrecklicher Verbrechen an deutschen Zivilisten bei Oppeln" in Oberschlesien. Dabei erfülle den Historiker Unbehagen, wenn er an das polnische Geschichtsbild der Zukunft denkt, "wenn alle das wissen, was ich weiß".

Der Erinnerungsimperativ des Holocaust ist begrenzt

Was Kieres "weiß", ist im Falle der antisemitischen Übergriffe in Polen bereits 2000 ans Licht gekommen. Die Ermordung von Juden in der masowischen Kleinstadt Jedwabne nach dem deutschen Einmarsch 1941 durch den polnischen Mob hat zu einer Erschütterung des eigenen Opfermythos geführt. Die vor fünf Jahren einsetzende Debatte ist allerdings, so konstatiert Feliks Tych - jetziger Direktor am Jüdischen Historischen Instituts in Warschau - so gut wie "gestorben", da diese sich als "schädlich für die Staatsräson" erwiesen habe. Dabei sei "Jedwabne nur die Spitze des Eisbergs". Karol Sauerland, Germanist an der Universität in Thorn, hat 2004 diesen Prozeß einer langsam ersterbenden Debatte chronologisiert und die von Tych beklagte mangelnde Aufarbeitung nachvollzogen (Polen und Juden. Jedwabne und die Folgen. Philo Verlag, Berlin 2004, 322 Seiten, broschiert, 29,80 Euro). Sauerland schließt in seinem Ausblick auf die zukünftige Behandlung dieser dunklen Seite der polnischen Geschichte, "daß wie mit Jedwabne in Polen umgegangen wird, auch über die Zukunft des Landes entscheidet".

Nach Ansicht des Leipziger Osteuropahistoriker Stefan Troebst dürften Sauerland und Tych aber ebenso vergeblich auf Revision oder gar Aufarbeitung zwischen Stettin und Przemysl hoffen wie Steinbach und der BdV, da sie keine Kraft des "Erinnerungsimperativs des Holocaust" jenseits der Oder erwarten dürften. Troebst sieht den Antrieb einer historischen Aufarbeitung durch den erst 1990 überwundenen "Diktaturenwechsel von 1945" ohnehin anders motiviert. Laut der auf den exilpolnischen Historiker Oskar Halecki zurückgehenden "erinnerungskulturellen Struktur Europas" stehe in Ostmitteleuropa der Holocaust als "EU-Gründungsmythos" eben in direkter Konkurrenz mit der Aufarbeitung des Gulag-Systems. "Die Schwierigkeiten, zwischen diesen Erinnerungskulturen in Europa zu vermitteln, stehen uns noch bevor", warnt Troebst, "und dieser Prozeß wird lang und schmerzhaft sein". Für die deutsch-polnische Verständigung verheißt diese nüchterne Prognose demnach noch so manche Disharmonie.

Foto: Bundeskanzler Schröder (SPD) verneigt sich vor Veteranen, Warschau 2004: Im Zweifel polonophil


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