© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 12/06 17. März 2006

WIRTSCHAFT
Hysterisierte Gesellschaft
Jens Jessen

Die Katastrophenlust greift in Deutschland um sich. Die Würmer in Fischen, die vor Jahren zu einem rapiden Verkaufsrückgang führten, die Angst vor BSE, die den Ruin von Rindfleischerzeugern und Fleischern brachte. Die Maul- und Klauenseuche, Nitrofen in Putenfleisch und Getreide als Gefahr für Leib und Leben, vergammeltes Fleisch auf Frisch getrimmt zum Verzehr in den Lebensmittelketten untergebracht - die Lebensmittelskandale der letzten Jahre haben die Deutschen hysterisiert. Die Vogelgrippe ist da nur das I-Tüpfelchen auf die allgemeine Verunsicherung. Über ihr alltägliches Eßverhalten scheinen sich viele aber kaum Gedanken zu machen. Tatsächlich gibt es hundertmal mehr Tote durch unausgewogene Ernährung als durch vergiftete Nahrung, bestätigt Camilla Sandvik von der Universität Oslo, die sich bei der EU-Kommission mit dem Thema befaßt hat.

Karen Lock von der Londoner School of Hygiene and Tropical Medicine - sie arbeitet derzeit an einer WHO-Studie über die globale Belastung von ernährungsbedingten Krankheiten - stellte fest: "Der mangelnde Verzehr von Obst und Gemüse hat einen viel größeren Einfluß auf die Gesundheit, als jeder von uns gedacht hätte."

Die Sozialpolitiker aller Parteien haben eine Katastrophe herbeigeführt, die den sozialen Frieden zerstören kann. Die Meinungsmacher in den Medien können mit Katastrophenmeldungen der Renten das demokratische System untergraben. Alle denkbaren Fehlentwicklungen - die konjunkturelle Misere, die Geburtenkrise, die zunehmende Vergreisung Deutschlands - zerstören die 1889 von Bismarck im Reichstag durchgesetzte Rentenversicherung. Dagegen ist auch eine gesunde Ernährung kein Heilmittel.


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