© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 12/06 17. März 2006

Der gezähmte wilde Osten
Ein Sammelband demonstriert anhand von Beschreibungen des "Transitraumes" zwischen Oder und Moskwa die unterschiedliche Transformation seit 1990
Ekkehard Schultz

Jedem, der vor den politischen Umbrüchen Ende 1990 und in letzter Zeit die Großstädte der postkommunistischen Länder besucht hat, springen die Veränderungen sofort ins Auge. Doch meist sind es die Äußerlichkeiten, die den Eindruck des bloßen touristischen Beobachters prägen. Wie sieht aber die Veränderung konkret aus? Der näheren Beschreibung einiger Phänomene dieses Wandels widmen sich die Autoren des Sammelbandes "Transiträume", der jüngst in der Edition Bauhaus Dessau erschienen ist. Dabei liegt ihr Augenmerk auf den Regionen und Großstädten entlang der Transitstrecke Berlin-Moskau, die Deutschland mit Polen, Weißrußland und Rußland verbindet. Insgesamt bietet der Sammelband einen guten Überblick über den Transformationsprozeß eines Spektrums quer durch Mittelosteuropa.

Vor 1990 war die Bedeutung dieses Raumes schon aufgrund des deutlich geringeren Verkehrsaufkommens erheblich kleiner. Nach dem Ende des Kommunismus setzte mit der Arbeitsmigra-tion und dem Fernhandel ein rasches Wachstum ein. Die Strecke zwischen Frankfurt/Oder und Warschau wurde zu einem Paradies für Kleinunternehmer jeder Art. Eine Menge Wechselstuben, Märkte und Serviceangebote für Fernfahrer und Touristen entstanden. Je näher der EU-Beitritt Polens rückte, desto länger wurden die Schlangen am Frankfurter Grenzübergang mit Lkw-Wartezeiten von mehreren Tagen. Mittlerweile ist die Hochzeit der Kleinunternehmen vorbei, die nach und nach durch mittelständische Strukturen ersetzt wurden. Die Entwickung des westlichen Polens zu einer prosperierenden Region deutete sich allerdings schon lange vor dem Mai 2005 an.

Die Autoren bewerten die Veränderungen in den einzelnen Regionen sowohl mit längerfristig angelegten Beobachtungen als auch mit Momentaufnahmen. So beschreibt Bastian Lange im Kapitel "Generation Warschau" die optimistische Aufbruchstimmung in der polnischen Hauptstadt. Seit den neunziger Jahren wurde sowohl mit Rekonstruktionen historischer Gebäude als auch mit einem reichlichen Zuwachs an Banken und Geschäftshäusern Traditionsbewußtsein und Modernität in Einklang gebracht. Der neue erfolgreiche Mittelstand führte zu einer bemerkenswerten Belebung des Club- und Nachtlebens.

Den Kontrast dazu bietet der auf der östlichen Seite der Weichsel gelegene Warschauer Stadtteil Praga mit etwa 100.000 Einwohnern. Hier sind die Lasten der kommunistischen Vergangenheit noch deutlich spürbar, wie Anna Deschka in ihrem Aufsatz "Gentrifizierung in Praga" beschreibt. Zwar gibt es seit Ende der neunziger Jahre ein Programm zu Pragas "Revitalisierung". Doch davon ist bis heute relativ wenig zu sehen, nur wenige Gelder sind im Stadtteil tatsächlich angekommen.

Zwischen Praga und der polnisch-weißrussischen Grenze herrschen ländliche Strukturen und eine hohe Arbeitslosigkeit vor. Da die Standorte für Investoren unattraktiv sind, sind die Unterschiede dort gegenüber 1990 weit geringer. Die Bedeutung der privaten Kleinmärkte wird dort immer größer. An Polens Ostgrenze, die heute EU-Grenze ist, dominiert seit den neunziger Jahre ein emsiger Schleichhandel.

In Weißrußland wurde die anfängliche Privatisierung seit Mitte der neunziger Jahre wieder gestoppt. Die niedrigen Einkommen und der niedrige Lebensstandard ermöglichen hier ein Fortwirken kommunistischer Stadtstrukturen. Im Zentrum der weißrussischen Hauptstadt Minsk findet - in diametralem Gegensatz zu Warschau - kaum ein Nachtleben statt. Der kleine Mittelstand sucht seine Interessenten außerhalb der Stadtzentren. Zudem manifestiert sich in Weißrußland ein Folgeproblem aus dem Nachlaß des Kommunismus in besonders deutlicher Form, so Kai Vöckler im Aufsatz "Mikrorayons - Von der kollektiven Hoffnung zum Traum vom privaten Glück". Einer großen Zahl von Mietern in den typischen Plattenbaugebieten wurden diese Objekte in den neunziger Jahren äußerst günstig verkauft oder sogar geschenkt. Im Gegenzug sollten die neuen Eigentümer nunmehr für die Sanierung der oft maroden Bauten verantwortlich sein. Da die wirtschaftlichen Verhältnisse dies jedoch den Bewohnern nicht gestatten, verfallen diese Objekte immer mehr.

Im Vergleich zu Minsk sind die städtebaulichen Veränderungen in der russischen Hauptstadt Moskau gewaltig. Der Markt hat bereits seit den neunziger Jahren seinen Siegeszug angetreten. Ständig entstehen auf den Flächen von kleineren Märkten und Geschäften neue prächtige Geschäftsmeilen und Gewerbegebiete. Für die meisten kommunalen Institutionen wie Bibliotheken und Museen fehlt das Geld, was der augenfällige Verfall dokumentiert. Da Salons und Einkaufszentren gleichzeitig immer prächtiger und schöner werden, hat dies eine erhebliche Verschiebung der Treffpunkte im öffentlichen Raum zur Folge. Waren früher oft öffentliche Einrichtungen beliebte Begegnungsstätten, so sind dies heute Großmärkte. Der Glanz der Warenwelt und damit auch der Konsum ist zum "sichtbarsten Zeichen der neuen Zeit" geworden, an dem sich andere Lebensbereiche in Stil und Aufmachung zu orientieren haben. Wer in dieser Beziehung nicht mithalten kann oder will, hat unter den neuen Bedingungen schlechte Karten.

Große Mängel in der Infrastruktur führten dazu, daß die Bewerbung der russischen Hauptstadt als Austragungsort der Olympischen Spiele von 2012 erfolglos blieb. So ist die Hotelstruktur immer noch nahezu auf dem Stand von Sowjetzeiten, nur daß die Zimmer für den Durchschnittsgast unbezahlbar sind. Generell ist die Konzentration in der russischen Hauptstadt auf Großprojekte ausgerichtet. Hier möchte Moskau - wie zu Zeiten der Sowjetunion - nicht nur mit westlichen Vorbildern "mithalten", sondern "das Beste haben, was es auf der Welt gibt", so Elina Trubina im Kapitel "Urbane Kulturen in der postsozialistischen Epoche".

Regina Bittner, Wilfried Hackenbroich, Kai Vöckler (Hrsg.): Transiträume. Frankfurt/Oder-Poznan-Warschau-Brest-Minsk-Smolensk-Moskau. Edition Bauhaus, Band 19. Jovis Verlag, Berlin 2006, 480 Seiten, broschiert, Abbildungen, 34,80 Euro


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