© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 14/06 31. März 2006

Der Damm ist gebrochen
Weißrußland: Die Proteste gegen die Präsidentschaftswahl waren keine Revolution / Verhaftungswelle in Minsk
Tatjana Montik

Ein bißchen erinnerte Minsk nach der Präsidentschaftswahl vom 19. März an Kiew im Herbst 2004. So empfanden viele, die tagelang auf dem Oktoberplatz der weißrussischen Hauptstadt gegen die mutmaßliche Fälschung des Wahlergebnisses (offiziell fast 83 Prozent für den Amtsinhaber) demonstrierten: zuerst in Kundgebungen, zu denen sich entgegen allen Erwartungen Zehntausende Demonstranten einfanden, und später im Protest-Zeltlager, in dem bis zu 500 meist junge Leute mehrere Nächte hintereinander übernachteten.

So viele Protestierende hatten weder Regierung noch Opposition erwartet. Die meisten würden zu Hause bleiben, hieß es in Minsk. Und das nicht wegen der angeblich breiten Unterstützung für den regierenden Präsidenten Alexander Lukaschenko im Volk, sondern wegen der allgegenwärtigen Angst, die dessen Regime in den letzten zwölf Jahren den Bürgern einzuimpfen vermochte.

Am Wahlsonntag herrschte in vielen Minsker Familien große Anspannung. Manche Eltern, die ihre Kinder - in Sorge um deren Zukunft - nicht aus dem Haus lassen wollten, mußten zusehen, wie diese heimlich losgingen. Am Montag war dann die ganze Familie auf dem Oktoberplatz: Die Angst war überwunden, das Eis gebrochen. Sogar jene, die gezweifelt hatten, ob sie auf den Platz gehen sollten, taten es.

"Wenn man von uns morgen im Dekanat erfährt, können meine Freundinnen und ich von der Uni fliegen", sagte mir die 19jährige Maryssja in einer U-Bahn-Unterführung, wo sie sich mit zwei weiteren hübschen Mädchen aufwärmte. "Das einzige, was uns Trost spendet, sind unsere Professoren und Dozenten, von denen wir hier auf dem Platz viele gesehen haben".

"Womöglich stehen wir zum letzten Mal auf diesem Platz mit dem häßlichen Namen Oktoberplatz", sagte mir ein Geographiestudent, der zur Demonstration zusammen mit seinem Vater und dem älteren Bruder erschien. "Wir wollen alles dafür tun, damit dieser Platz bald wieder Zentralplatz heißen darf, oder noch besser - Freiheitsplatz".

Bis zur nicht nur von ihm erhofften Freiheit liegt vor Weißrußland noch ein langer Weg. Das haben die Ereignisse der letzten Wochen in aller Deutlichkeit gezeigt. Zu fest hält sich das weißrussische Regime im Sattel. Ungebrochen ist Lukaschenkos Rückendeckung durch Rußland, mit dem das Land seit 1997 durch einen Unionsvertrag eng verbunden ist. 2004 entfielen 58,5 Prozent des Außenhandelsvolumens der Republik Belarus auf den großen "Bruder" im Osten. Wenn das Regime die Daumenschrauben noch fester zudreht und das Informationsvakuum in den Medien ungebrochen bleibt, bedarf es noch vieler Jahre mutigen Kampfes, um Veränderungen durchzusetzen.

Dennoch ist letzte Woche ein Damm gebrochen. Die Bürger werden sich nun nicht mehr alles gefallen lassen. Selbst ein Kameramann des Staatsfernsehens faßte auf dem Weg von seinem Arbeitsplatz zur U-Bahn spontan den Entschluß, sich dem Protest anzuschließen: "Diese Lügen, die ich produzieren muß, kann ich nicht mehr ertragen!" kommentierte er mir gegenüber seine Entscheidung.

Eine frühere Lehrerin harrte sechs Stunden bei Minusgraden und Schnee im Zeltlager aus, die verbotene alte weiß-rot-weiße Fahne in der Hand. "Ich warte noch auf meinen Mann, der mich gleich ablösen kommt. Wir wollen das Stereotyp brechen, alle Rentner seien Lukaschenko-Wähler. Unser aller Hauptproblem ist ein anderes: die durch und durch sowjetische Angsthasenmentalität, aus der wir aber in diesen Tagen gerissen werden", so die 74jährige.

Aber Weißrußland ist nicht die Ukraine, und Leonid Kutschma (der ukrainische Ex-Präsident) war kein Lukaschenko. Trotz großer Hoffnungen und einem kurzen Atemzug Freiheit herrschte in Minsk Spannung. Jederzeit wurde Schlimmes erwartet: Das Regime würde sich wehren - selbst wenn das Menschenleben kostete. Mit dem Abzug der westlichen Journalisten stand die Gesichtwahrung nicht mehr auf der Tagesordnung. Wer Essen und warme Kleidung ins Zeltlager brachte, wurde in der U-Bahn oder in den Sackgassen, die zum Platz führen, festgenommen und zusammengeschlagen. Ältere wie Junge bekamen 15 Tage Haftstrafe für die Unterstützung der Protestler.

Besonders für jene, die einzeln oder zu zweit in Richtung Zeltlager gingen, wurde es gefährlich: Sie wurden geschnappt und eingesperrt. Student Jan wurde wegen einer Tasche mit einer warmen Decke als Protestler identifiziert und sogleich festgenommen. "Wir bringen dich zu uns ins Revier, rasieren dich kahl, und dann wirst du in einer Zelle sitzen und die Kriminellen über Freiheit unterrichten", höhnten die Beamten. Damals gelang Jan die Flucht. Doch wo der Student heute ist, das wissen seine Eltern nicht.

In der Nacht zum Freitag floß dann auch Blut: Gegen drei Uhr nachts wurde das Zeltlager von einer Spezialeinheit brutal geräumt und die etwa 200 Protestler verhaftet. In der Nacht davor gab es in Minsk mehrere hundert Festnahmen - darunter viele Studenten, mehrere Journalisten, aber auch der ehemalige polnische Botschafter Marius Maszkewicz, der sozialdemokratische Präsidentschaftskandidat Alexander Kosulin, ältere Menschen, selbst Mütter mit Kindern.

Mit einer solchen Mutter habe ich kurz vor meiner Abreise aus Minsk, gesprochen. Die 30jährige Alessja hatte zwei Kinder zu Hause gelassen, mit dem dritten war sie zum Protestzelt gekommen. "Damit mein Sohn selber lernt, wie teuer uns unsere Zukunft und die Demokratie zu stehen kommen."

Foto: Protestler im Zeltlager auf dem Oktoberplatz in Minsk: "Diese Lügen kann ich nicht mehr ertragen!"


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