© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 14/06 31. März 2006

Pankraz,
G. Oettinger und der Dialekt als Hochsprache

Vor den Vätern sterben die Söhne, und vor den Völkern stirbt ihre Sprache. Manche Völker töten ihre Sprache sogar selbst, bevor sie abtreten, so zur Zeit die Hochdeutschsprechenden, deren führende Schichten nur noch Englisch und/oder "Dialekt" sprechen wollen, was immer das heißen mag.

In der deutschsprachigen Schweiz gibt es schon seit längerem kräftige, einflußreiche Bemühungen, an den Schulen an erster Stelle Englisch zu lehren und an zweiter statt des Hochdeutschen Schwyzerdüütsch. Baden-Württembergs neu-alter Ministerpräsident Oettinger wandelt auf ähnlichen Pfaden. Als "elaborierten Code", sagt er, sollen die Schüler im "Ländle" künftig nur noch Englisch lernen und danach als "restringierten Code" und "zweite Sprache" den jeweiligen Dialekt, Schwäbisch oder Alemannisch. Die einschlägigen Arbeitskommissionen für diese neue Reform bilden sich gerade. Das Fernsehen war schon da, um Kunde davon zu geben.

Was steckt dahinter? An erster Stelle wäre da Bequemlichkeit zu nennen oder besser: Faulheit. Das internationale Englisch, eine Art Pidgin-Englisch, ist das Latein der Gegenwart, man muß es sich notwendig aneignen, um in wichtigen Fragen mitreden zu können. Zu Hause aber, beim Einkaufen oder in der Freizeit, kann man sich gehen lassen, d.h. man spricht dann ganz gemütlich, "wie einem der Schnabel gewachsen ist", also Dialekt. Weshalb dazwischen denn noch Hochdeutsch schwätzen? Das bringt doch nichts. Hochdeutsch wird nicht mehr gebraucht, nicht einmal bei den Klassikern im Theater, wo man neuerdings kinderleicht mit unartikuliertem Gebrüll und obszönen Gebärden über die Runden kommt.

Im Grunde ist die Sprachreform à la Oettinger eine Fortsetzung der Rechtschreibreform mit anderen Mitteln, nämlich eine Verschwörung der Faulenzer mit der modernen Bürokratie. Für die Faulenzer ging es bei der Rechtschreibreform um schriftliches Sich-gehen-Lassen um buchstäblich jeden Preis. Als "Mindestprogramm" wurde gefordert: konsequente Kleinschreibung, konsequent "fonetische" Schreibweise, radikale Eindeutschung aller Fremd- und Lehnwörter, "Liberalisierung" der Zeichensetzung, insbesonders bei Kommas, die letztlich völlig ins Belieben des Schreibenden gestellt und so faktisch abgeschafft werden sollten.

Für die Bürokraten ging es parallel dazu um "Effizienzerhöhung", "technische Kompatibilität der Kommunikationsmittel", "Einspeisungsmöglichkeit der Sprache in internationale elektronische Systeme" usw. Das ist nun bei der Oettingerschen Sprachreform nicht anders. Das Pidgin-Englisch ist effizienter, kompatibler und elektronischer als das Hochdeutsch, also muß dieses durch jenes ersetzt werden. Und als Ausgleich zum Feierabend dann der völlig "liberale", regellose Dialekt, der einem von vornherein "gehört", bei dem man nichts lernen muß.

Ungerührt weggekehrt werden soll das, was Sprache eigentlich ausmacht: die semantische Abbildung und Erkundung jener Möglichkeiten zwischen bloßem Kalkül und infernalischer Spontaneität, aus denen erst jede Feinheit des Lebens erwächst, alles Transzendieren und interesselose Differenzieren, mit einem Wort: alle Kultur nebst angeschlossenen Erinnerungen und Traditionen. Daß solche Wegkehrlust unter keinem anderen europäischen Stamm als den gegenwärtigen Deutschen aufkommen kann, zuallerletzt unter den Franzosen bzw. Franko-Schweizern, braucht nicht eigens betont zu werden. Wie gesagt, vor den Völkern stirbt ihre Sprache.

Daß sich Pankraz hier aber so energisch für das Hochdeutsche stark macht, liegt nicht zuletzt in seinem Berufsinteresse. Es bedeutet keineswegs, daß er Dialekte mißachtet oder gar verachtet. Der Dialekt ist im Vergleich zur Hochsprache immer das Ursprüngliche, er ermöglicht und garantiert innige, primäre Welt-Einwohnung, eröffnet auch späterhin - gar nicht so selten - erstaunliche Ein- und Durchblicke, stärkt Solidaritäten, schützt vor eitlem Abheben. Außerdem sind Dialekte der notwendige Kraftquell, aus dem Hochsprachen einzig entstehen können.

Dennoch ist jedes trotzige oder selbstgefällige Ausspielen des Dialekts gegen die Hochsprache, beispielsweise in sogenannten Volksstücken oder in Fernseh-Unterhaltungsshows, peinlich und verdrießlich. Todernste Dinge, wo es um Alles und ums Letzte geht, passen besser in die Hochsprache, trotz Gerhart Hauptmann und der "Blechtrommel" von Günter Grass. Der Dialekt verhält sich in jedem Fall zur Hochsprache wie der Brotteig zum durchgebackenen Brot oder wie der ungeschliffene zum geschliffenen Diamanten.

Sehr sympathisch und charmant wirkt es, wenn eine hochsprachliche Geistesgröße in ihrer Rede den angestammten Dialekt "durchschimmern" läßt oder wenn sie manchmal, etwa im Zorn oder sonstigen Eifer, unwillkürlich in den Dialekt "zurückfällt". Man muß mit derlei Rückfällen oder Schimmereien freilich gewissermaßen haushälterisch umgehen, denn kaum etwas wiederum wirkt affektierter und mithin komischer als bloßes Herumspielen mit dem angestammten Dialekt. Hochsprache und Dialekt stehen stets in einer komplizierten, nicht unheiklen und nie spannungsfreien Beziehung zueinander, wobei der erotische Sinn von "Beziehung" durchaus mitzudenken ist.

Hochsprache und Dialekt brauchen einander. Wenn Oettinger & Co. (oder auch der Schweizer Nationalrat) dem dummen Publikum tatsächlich das Englische als neue Hochsprache aufzwingen würden, dann würden sie nicht nur das Hochdeutsche und die deutsche Schriftkultur abtöten, sondern sämtliche deutsche Dialekte inklusive des Schwyzerdüütschs dazu. Man wundert sich, daß das offenbar bisher noch nicht bedacht worden ist. Aber man kann heute über deutschsprachige Politiker leider gar nicht klein genug denken.


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