© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 14/06 31. März 2006

Der Theatermacher
Literatur: Rolf Hochhuth hat an seinem 75. Geburtstag allen Grund zum Feiern
Thorsten Hinz

In Thomas Bernhards Stück "Der Theatermacher" studiert Bruscon, der "größte aller Staatsschauspieler", mit seiner Theatertruppe im Gasthaus von Utzbach die Menschheitskomödie "Das Rad der Geschichte" ein, in der Nero, Churchill, Hitler, Einstein, Madame de Stael und Marie Curie auftreten sollen. Das Gesicht seiner Frau malt er schwarz, denn, "meine Liebe / das ganze Atomzeitalter / muß in diesem Gesicht sein / mehr oder weniger das Ende der Welt!", indes von draußen Schweinegrunzen zu hören ist. Hinterher beschimpft er seine Gattin, in ihrer angemalten Häßlichkeit sei sie "eine Schande für das weibliche Geschlecht".

Ein Gewitter beendet das Spektakel, das Publikum flieht, und Bruscon, als Napoleon verkleidet, bleibt einsam auf der Bühne zurück. Den "höchsten Kunstanspruch", den Bernhard karikiert und mit dem Bruscon scheitert, hat Rolf Hochhuth immer für realisierbar gehalten. Seine Stücke hat er als tiefernste Menschheitstragödien und das Theater als moralische Anstalt konzipiert.

Im "Stellvertreter", seinem bekanntesten Werk, befindet er Papst Pius XII. für schuldig, zur Verfolgung der Juden geschwiegen und Beihilfe durch Unterlassung geleistet zu haben. Erwin Piscator, Regisseur der am 20. Februar 1963 erfolgten Uraufführung, nannte das Stück "einen der wenigen wesentlichen Beiträge zur Bewältigung der Vergangenheit. Es nennt schonungslos die Dinge beim Namen; es zeigt, daß eine Geschichte, die mit dem Blut von Millionen Unschuldiger geschrieben wurde, niemals verjähren kann; es teilt den Schuldigen ihr Maß an Schuld zu".

Man muß die Hudeleien Piscators nicht ernst nehmen, Hochhuths Intentionen aber hat er richtig erfaßt. Der Dichter tritt, gleich Jesus auf dem Deckengemälde Michelangelos in der Sixtinischen Kapelle zu Rom, als Weltenrichter auf, der gekommen ist, um über die Katholische Kirche und über das deutsche Utzbach zu richten.

Es kam zu Protesten empörter Katholiken und zu einer Anfrage im Bundestag. Der Außenminister bedauerte den Angriff auf den Papst, doch die Zeitläufte waren für Hochhuth günstig: 1962 hatte in Israel der Eichmann-Prozeß geendet, und die Vorbereitungen zum Auschwitz-Prozeß liefen auf Hochtouren. "Der Stellvertreter" entsprach einer allgemeinen Erwartung. Er wurde von einer starken Strömung in der öffentlichen Meinung getragen und ließ sie weiter anschwellen. Bis Ende 1964 wurden mehr als 200.000 Exemplare der Buchausgabe verkauft. Hochhuths Ärger darüber, daß man ihm zur Einweihung des Holocaust-Denkmals in Berlin keine Einladung geschickt und keinen Ehrenplatz zugewiesen hat, ist daher mehr als berechtigt.

Hochhuth verfügte über eine geniale Fähigkeit, Stimmungen und Entwicklungen zu erkennen, aufzugreifen und literarisch nutzbar zu machen. Hinzu kamen seine Belesenheit, ein in Deutschland selten gewordenes Gefühl für historische Größe und der Mut, ja der Wille zum Eklat. Seinen Platz in der Literaturgeschichte hat er als Entlarver und Bühnen-Agitator gefunden. Darin liegt auch seine Begrenzung. Seine Texte, anstatt Strukturmodelle von der Welt zu liefern, verkünden in apodiktischer Weise Hochhuths politische Kritik, seine Meinungen und Überzeugungen. Im "Stellvertreter" heißt es: "Eminenz, gestatten, die Russen / sind doch ohne Frage moralisch im Recht: / sie kämpfen einen guten, gerechten Kampf! / Sie wurden überfallen (...)/ Wenn sie Europa jetzt bedrohen, / trägt Hitler ganz allein die Schuld."

Die Anhänger der Präventivschlag-These finden also keinerlei Gnade vor ihm. Was aber, wenn sie trotzdem recht hätten? Was bliebe dann von diesen und ähnlichen Passagen? Eine Literatur, die zumindest objektiv an politische Konjunkturen und an ihnen genehme Wahrheiten gekoppelt ist, läuft Gefahr, mit diesen im Orkus zu verschwinden. Als Person und Bürger dagegen hat Hochhuth sich von den Wellen, die ihn trugen, nie verschlingen lassen, ist er ein anarchischer, grantelnder Freigeist geblieben, der sich simplen politischen Zuordnungen entzogen hat, auch unter Gefahren.

Zuletzt hat Hochhuth in den Medien viel Hohn geerntet, was nur die mangelnde Aufrichtigkeit der Kritiker bezeugt, für die er erst die geistig-moralischen Voraussetzungen geschaffen hat. Denn wenn es einen Schriftsteller gibt, der die geistige Situation des Landes meßbar beeinflußt hat, dann heißt er nicht Böll oder Grass, sondern Rolf Hochhuth, Verfasser des "Stellvertreters", den selbst Gutwillige heute für unaufführbar halten. Hochhuths Wirkung entfaltete sich eben mehr auf der politischen Ebene als auf der künstlerischen. Und sie dauert an. Anders als im Bernhard-Stück, wo das Weltendrama im Schweinegrunzen und in Wolkenbrüchen untergeht und das Publikum erlöst wird, dreht sich das von Hochhuth in Gang gesetzte Theaterrad der Geschichte in der Realität weiter und weiter. Wenn er von seiner Wohnung in der Berliner Wilhelmstraße auf das Stelenfeld des Holocaust-Mahnmals blickt, kann er sich von den bleibenden Früchten seines Schaffens überzeugen. Welchem anderen Dichter war das je vergönnt? Am 1. April wird Rolf Hochhuth 75 Jahre alt.

Rolf Hochhuth: Neue Dramen, Gedichte, Prosa. Nachwort von Evelyn Finger. Rowohlt Verlag, Reinbek bei Hamburg 2006, gebunden, 1.275 Seiten, 68 Euro


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