© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 14/06 31. März 2006

Deutschlands schimmernde Wehr
Ein neues Standardwerk der deutschen Marinegeschichtsschreibung des Militärgeschichtlichen Forschungsamtes in Potsdam
Arnold Kludas

Alle an der deutschen Marinegeschichte Interessierten können jetzt auf einen umfangreichen wissenschaftlichen Gesamtüberblick zurückgreifen, den Werner Rahn im Auftrag des Militärgeschichtlichen Forschungsamtes in Potsdam herausgegeben hat und der im renommierten Oldenbourg Verlag erschienen ist. In 32 Einzelbeiträgen schlagen 29 kompetente Autoren auf über 700 Seiten einen fast tausend Jahre abdeckenden Bogen von den historischen Wurzeln in der Wikingerzeit bis in unsere Gegenwart.

Thematik und Zielsetzung des Bandes umreißt der Titel "Deutsche Marinen im Wandel" nur vage, der Untertitel "Vom Symbol nationaler Einheit zum Instrument internationaler Sicherheit" präzisiert aber den behandelten Zeitrahmen, und das ausführliche Inhaltsverzeichnis läßt dann schließlich die Zielsetzung erkennen: Es geht hier vorwiegend um den historisch-politischen Kontext und die ethischen, moralischen und sozialen Aspekte, unter deren Einfluß die jeweils Verantwortlichen handelten und damit den Wandel in den deutschen Marinen bewirkten. Notwendigerweise und somit bewußt ausgeklammert oder an den Rand gedrängt bleiben also militärtechnische Entwicklungen und die Darstellung der Seekriege. Das ist keineswegs als Mangel zu bewerten, da diese Themen bereits in anderen Veröffentlichungen erschöpfend behandelt worden sind.

Die folgende Aufstellung umreißt die fünf Darstellungsepochen, und deren Seitenumfänge machen ihre Gewichtung deutlich: Auf etwa neunzig Seiten wird der Leser vom letzten vorchristlichen Jahrhundert (den Anfängen der Schiffahrt an unseren Küsten) zur deutschen Hanse und weiter über Brandenburg-Preußen zur ersten Deutschen Flotte 1848/49 geführt. Es folgt auf hundert Seiten die Marine der Kaiserreichs bis 1914. Das Kernstück des Bandes bildet mit 350 Seiten der "Dreißigjährige Krieg" von 1914 bis 1945. 125 Seiten nehmen danach die Volks- und Bundesmarine der deutschen Zweistaatlichkeit ein, ehe schließlich die Entwicklung seit der Wiedervereinigung nach fünfzig Seiten in die Gegenwart mündet.

Der hier gewählte thematische Ansatz ist in einer solchen Breite und Vielfalt noch nie verfolgt und zusammengefaßt publiziert worden, wobei der Umstand, daß einige der Beiträge bereits an anderer Stelle zu lesen waren, im Interesse einer abgerundeten Darstellung zu tolerieren ist, zumal diese Texte mehr oder leider auch weniger aktualisiert wurden. Die Quellenbasis der durchweg lebendig und gut lesbar geschriebenen Darstellungen wird jeweils in ausführlichen Anmerkungen dokumentiert und zuweilen auch kommentiert. Ein neues Standardwerk also, das mit interessanten Fragestellungen und ungewöhnlichen Forschungsansätzen neue Perspektiven freilegt, wichtige Erkenntnisse vermittelt und sicher zu näherer Beschäftigung mit so manchem hier angeschnittenen Thema anregt. Daß niemand auf den Gedanken gekommen ist, diesem ebenso voluminösen wie gewichtigen Opus ein Register - wenigstens der Personen - anzuhängen, ist schade.

Nicht jeder Leser wird den Ergebnissen dieser Arbeiten in allen Punkten zustimmen, was auch keineswegs von allen Autoren erwartet wird, beschließt doch Vizeadmiral Lutz Feldt sein Geleitwort mit der Hoffnung auf lebhafte und konstruktive Diskussionen. Diese sind allerdings unvermeidlich und haben deshalb bereits eingesetzt. Sie speisen sich hauptsächlich aus den in Deutschland besonders ausgeprägten gegensätzlichen Ausgangssituationen: Während die von Golo Mann schon vor Jahrzehnten erkannte Tatsache weithin akzeptiert ist, daß sich jede Generation ihr eigenes Bild von der Geschichte macht (machen müsse), stößt es nach wie vor auf Widerspruch, die Geschichtsschreibung aus volkspädagogischen Gründen den Gesetzen der Political correctness zu unterwerfen. Skeptiker halten es - nicht zu Unrecht - für offenkundig, daß Political correctness der historischen Korrektheit bisweilen diametral gegenübersteht und in solchen Fällen eine Geschichtsschreibung im Sinne Leopold von Rankes kaum möglich ist.

Eine durch das hier angezeigte Buch im MarineForum, der führenden deutschen Marinezeitschrift, ausgelöste, ebenso interessante wie typische Kontroverse verdeutlicht dieses. Im Heft 9/2005 äußert sich ein ehemaliger Marineoffizier (Crew 1961) in einem Leserbrief anerkennend über das Buch und begründet dann anhand von Beispielen kritisch und ohne aggressive Polemik, warum die anregende Lektüre bei ihm ein leichtes Unbehagen zurückgelassen habe. Im wesentlichen macht er folgende drei Einwände geltend: Erstens werde die jüngere ausländische Forschung außer acht gelassen, zweitens kritisiert er "die auffallende Geringschätzung" der Autoren gegenüber "älteren Kollegen" und drittens ein "quellenkritisches Manko", das sich aus der betonten Bevorzugung von Akten vor den bewußt vernachlässigten Zeitzeugen ergebe, deren von den Wirklichkeiten ihrer Gegenwart bestimmte Denk- und Handlungsweise man gern aus heutiger Sicht diskreditiere.

Einer der Autoren, Michael Epkenhans, Lehrbeauftragter für Neue Geschichte an der Universität Hamburg, geht in Heft 1/2/2006 auf diese Äußerungen ein. Ebenfalls in einem Leserbrief und ebenfalls kenntnisreich, leider aber in bisweilen besserwisserischer Polemik, weist er jede Kritik apodiktisch zurück. Der Kritiker verzerre die historische Realität, urteilt Epkenhans, degradiert sodann die vom Briefschreiber ins Feld geführten Marinehistoriker zu Marinegeschichtsschreibern, die es von Historikern wie den Autoren des Buches zu unterscheiden gelte. Diese würden, so sehr es dem Schreiber und vielleicht auch manchem anderen mißfallen mag, ihren Weg weitergehen.

Ihre Aufgabe sei es, die Errungenschaften unseres demokratischen Gemeinwesens mit allen Mitteln zu bewahren, so Epkenhans in der Diktion eines geschichtspolitischen Chefideologen. In absoluter Gewißheit der Richtigkeit seines Weltbildes in den Pluralis majestatis verfallend, äußert er den Wunsch, daß sich unsere Kritiker nicht nur näher mit den Quellen beschäftigen, sondern gegebenenfalls auch der unmittelbaren Diskussion stellen würden. Zu der sei er, Epkenhans, jedenfalls stets bereit. Ob sich nach dieser Lehrstunde in Geschichtspolitik noch Partner für eine solche Debatte finden werden? Immerhin hatte der so abgekanzelte Leserbriefschreiber, der Einladung Feldts folgend, ja einen Diskussionsbeitrag in einem maritimen Forum formuliert, was doch wohl der von Epkenhans geforderten Form einer unmittelbaren Diskussion entsprechen dürfte. Epkenhans' Überzeugungen mögen ihm einen solchen Diskussionsstil nahelegen. Doch Überzeugungen sind oft die gefährlichsten Feinde der Wahrheit, wie schon Friedrich Nietzsche wußte. Ein anderer großer Denker, Georg Christoph Lichtenberg, stellte in diesem Zusammenhang fest: Was alle Welt für ausgemacht halt, verdient am meisten untersucht zu werden.

 

Arnold Kludas leitete von 1976 bis 1992 die wissenschaftliche Bibliothek des Deutschen Schiffahrtsmuseums in Bremerhaven. Er publizierte über 50 marinehistorische Bücher, die vielfach sogar in ihren Übersetzungen zu internationalen Standardwerken wurden.

Werner Rahn (Hrsg.): Deutsche Marinen im Wandel. Vom Symbol nationaler Einheit zum Instrument internationaler Sicherheit. Oldenbourg Verlag, München 2005, XIV und 736 Seiten, gebunden, Abbildungen, 49,80 Euro

Foto: Karl Schön, "S.M. Jacht Hohenzollern, Flotten-Parade", Aquarell 1913: Geschichtsschreibung aus volkspädagogischen Gründen


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