© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 15/06 07. April 2006

"Jeder hier hat Angst vor denen"
Die Erzieherin Christel M. arbeitet direkt neben der Rütli-Schule in Neukölln. Sie kennt den Alltag dort aus eigenem Erleben
Moritz Schwarz

Frau M., was ist los an der Rütli-Schule in Berlin-Neukölln?

M: Wir sehen oft Schüler erst um neun Uhr zur Schule kommen und viele Ältere - also die 15-, 16jährigen - schon um elf Uhr wieder über den Zaun kletternd abhauen. Die Schule hat es schon mit Anti-Schulschwänzer-Programmen versucht, aber ohne Erfolg. Was können die Rütli-Schüler, wenn sie die Schule abschließen? Ich spreche immer vom "Rütli-Abitur": ein Abschluß für die Arbeitslosigkeit. Die haben keine Chance, können nichts, kriegen nichts. Wir haben Praktikanten bei uns, die von der Rütli kommen, die nicht einmal richtig lesen und schreiben können.

Berlins SPD-Schulsenator Klaus Böger hat den Lehrern der Rütli-Schule Presseinterviews untersagt. Der Berliner "Tagesspiegel", der am Donnerstag letzter Woche als erster den Brandbrief des Kollegiums veröffentlichte (siehe Bericht Seite 5), schreibt, die Stimmung an der Schule sei "geprägt von Zerstörung, Gewalt und menschenverachtendem Verhalten".

M: Man spürt, da drüben brennt die Luft. Da sind richtige Machtkämpfe im Gange. Vor vielleicht einem Jahr hat sich hier auf der Straße gar die ganze Schule gekloppt - die ganze Schule! Die Rektorin stand fassungslos inmitten des Getümmels, das Mobiltelefon in der Hand, und wußte sich nicht zu helfen.

"Es ist viel zu gefährlich, sich den Haß dieser Schüler zuzuziehen"

Also mehr als eine klassische Pausenhofprügelei?

M: Das war ein richtiges Draufhauen. Mit Eintreten auf die am Boden Liegenden. Es war wie in einem Wildwestfilm, wo einer mit einem Stuhl zuschlägt, der andere ... Schließlich kamen obendrein aus den umliegenden Häusern Personen, bewaffnet mit Stöcken, und wollten mitmischen. Wir haben nur gehofft, daß nicht ausgerechnet jetzt die Hort-Kinder kommen, denn ich hätte nicht hinausgehen können, um sie zu holen.

Sie konnten nicht auf die Straße gehen?

M: Nein, diese Prügelei tobte auf der Rütli- und auf der Weserstraße, also auch außerhalb des Schulgeländes und um unser ganzes Haus herum. Hier kam niemand mehr rein oder raus. Wenn ich rausgegangen wäre, hätte ich auch was draufbekommen. Schließlich kamen Mannschaftswagen der Polizei. Die blieben dann drei Tage lang.

Hat das die Rütli-Schüler beeindruckt?

M: Die waren stolz wie Oskar. Und das ist jetzt wieder der Fall. Natürlich bin ich froh, daß die Öffentlichkeit nun endlich mal von den Zuständen hier Notiz nimmt, aber letztlich fühlen sich die Schüler von den Journalisten und Polizisten, die seit Donnerstag hier sind, nur bestätigt. Sie sind jetzt berühmt und gefürchtet. Gestern wurden Journalisten mit Steinen angegriffen. Ich habe beobachtet, mit welchem Selbstbewußtsein Schüler die Türen eines Fahrzeugs mit Journalisten aufgerissen haben und diesen gedroht und nach ihnen gespuckt haben. Ich habe beobachtet, wie eine Schülerin einem Mann, ich glaube, es war ein Lehrer, gedroht hat: "Da vorne sind Reporter, geben Sie ja kein Interview!" Jeder hier hat inzwischen Angst vor denen.

Sie wollen nicht erkannt werden, sind Sie selbst schon angegriffen worden?

M: Unser Kinder wurden zum Beispiel mit Cola-Dosen beworfen. Einen Ball zurückholen - unser Pausenhof grenzt an den der Rütli-Schule -, ist völlig unmöglich. Meine Kolleginnen und ich trauen uns manchmal in der Pause nicht mehr in unser Rauchereck, weil wir dann vom Rütli-Hof aus beworfen werden. Da wird der Mülleimer ausgeleert und rübergeworfen, was sich darin findet.

Haben Sie Ihre Autorität nicht geltend gemacht?

M: Nein, denn es ist viel zu gefährlich, sich den Haß dieser Schüler zuzuziehen. Und als Frau bist du für die sowieso das Letzte. Mit denen legt man sich besser nicht an. Das ist ihr Revier.

Was würde passieren?

M: Ich habe keine Lust, daß die zu uns rüberkommen. Deshalb melde ich solche Schüler auch nicht bei ihren Lehrern.

Wer sind die Täter? Jungs oder Mädchen? Deutsche oder die Ausländer?

M: Ich sehe nur Ausländer, ich glaube, es sind gar keine Deutschen mehr da.

Offiziell hat die Rütli-Schule "nur" 83 Prozent Ausländer.

M: Ich weiß es nicht, es sind vor allem die älteren Jungs. Das ist wie im Zoo. Wir sagen hier "die Brüllaffen". Ich glaube, allein sind die eher harmlos, aber in die Gruppe: Die Langeweile, die Hormone der Pubertierenden und der Spaß, sich vor den anderen zu produzieren, kommen zusammen. Und je mehr Applaus einer von seinen Kameraden bekommt, um so mehr produziert er sich. Da möchte ich nicht dazwischengeraten. Ich gebe zu, ich habe Angst.

Fühlen Sie sich von den Politikern allein gelassen?

M: Die schauen doch seit Jahren weg. Es geht doch nicht nur um die Rütli-Schule, mit dem ganzen Viertel geht es steil bergab. Die Gegend ist fast rein türkisch beziehungsweise arabisch. Das ist ihr Gebiet, und die machen hier ihre eigenen Gesetze. Wenn ich das Gerede von "Integration" höre ... Ich frage mich: Wer integriert hier eigentlich wen?

Sie haben das Gefühl, Sie werden integriert?

M: So ist es doch. In meiner Gruppe von 14 Kindern ist noch eines deutsch. Wir essen kein Schweinefleisch, weil wir uns den Verhältnissen anpassen. Es gibt hier keine deutschen Läden mehr. Türkische Fernsehsender und Zeitungen sorgen für eine eigene Medienwelt. Hier können Sie beobachten: Die zweite Ausländer-Generation war integrierter als die Dritte. Die Integration ist rückläufig. Die Kurve fällt.

Hat die multikulturelle Gesellschaft versagt?

M: Multikulti? Das ist hier Monokulti! Hier herrscht doch nur eine Kultur, die islamische! Das hier ist ein Ghetto. Hier ziehen sogar schon Türken weg, weil ihnen hier zu viele Türken sind.

Was schlagen Sie vor?

M: Ich weiß es nicht.

Was würden Sie Schulsenator Böger sagen, wenn sie ihn träfen?

M: Dazu möchte ich mich lieber nicht öffentlich äußern.

Sie würden ein hartes Durchgreifen fordern?

M: Sagen wir mal so ... die Strenge müßte wiederkommen.

Was meinen Sie genau?

M: Ich habe neulich "Der Pauker" von 1958 mit Heinz Rühmann gesehen. Da ist mir aufgefallen, damals gab es noch Respekt.

Sie meinen, statt Freiheit haben wir Verwahrlosung geschaffen?

M: Seit den Siebzigern haben wir dieses laissez faire. Das laissez faire funktioniert aber nicht. Ich denke mir, manches am Alten war gar nicht schlecht. Ich würde den Politikern sagen, sie soll sich mal die Realität anschauen: diesen völligen Verlust jeder Autorität! Das ist die Wirklichkeit! Ich würde ihnen sagen: "Kommt hierher, denn ihr habt doch keine Ahnung!"

 

Christel M. ist Erzieherin an einer sozialen Einrichtung auf dem gleichen Gelände, auf dem auch die inzwischen bundesweit bekannt gewordene Rütli-Schule in Berlin-Neukölln steht. Nach Veröffentlichung des Brandbriefs des Lehrer-Kollegiums erließ der Berliner Schulsenator ein Interviewverbot für die Lehrerschaft. Christel M. berichtet vom Alltag an der Rütli-Schule, den sie aus eigenem Erleben kennt. Seit fast 20 Jahren arbeitet die 1961 geborene Münsterländerin in unmittelbarer Nachbarschaft zur Schule. M. möchte anonym bleiben.

Foto: Journalisten, Rütli-Schüler: "Ich würde unseren Politikern gerne sagen: 'Kommt hierher, denn ihr habt doch keine Ahnung!'"

 

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