© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 15/06 07. April 2006

"Aggressivität, Respektlosigkeit und Ignoranz"
Integration: Mit ihrem Hilferuf haben die Lehrer der Berliner Rütli-Schule der Politik den Ball zugespielt / Kritik an mangelnder Unterstützung durch die Eltern
Ronald Gläser

Auf den Journalisten, der vor der Rütli-Schule aufgetaucht ist, um einige Bilder zu machen, kommt sofort ein halbstarker Schüler zu und fragt ihn, ob er eine Genehmigung der Polizei hat, hier zu fotografieren. "Hier ist Krisengebiet, du hast hier gar nichts zu suchen", brüllt der Jugendliche plötzlich und greift nach dem Trageriemen der Kamera. Gleichzeitig umringen den Mann mehrere arabisch- und türkischstämmigen Mitschüler.

Die Situation ist bedrohlich. Kein Polizist ist in Sicht und auch keiner der beiden Wachleute, die hier für 1,50 Euro pro Stunde für Ordnung sorgen sollen. Wäre das Band der Kamera nicht gerissen, wäre die Kamera wohl weg gewesen. So kommt der Fotograf glimpflich davon und hat dennoch sofort einen lebendigen Eindruck davon, was an dieser Schule los ist. Seit Donnerstag vergangener Woche ist die Rütli-Schule in Berlin-Neukölln in der Tat ein "Krisengebiet".

Zwei Stunden zuvor hatte die Schule noch dramatischere Szenen geboten: Pflastersteine flogen durch die Luft, Mülleimer wurden von Schülern aus den Klassenräumen in den Schulhof geworfen, Kamerateams werden bespuckt, beschimpft - es waren Bilder wie aus Pariser Banlieues im Ausnahmezustand.

34,9 Prozent der Schüler sind Araber

Die große Aufmerksamkeit, die die Neuköllner Hauptschule plötzlich genießt, hat das Lehrerkollegium verursacht. Ohne Gegenstimmen hat die Gesamtkonferenz einen Brief an den Bezirksstadtrat verfaßt, der darin gipfelt, die Auflösung der Schule zu fordern. In dem Schreiben verweisen sie darauf, daß Araber mit 34,9 Prozent mittlerweile die größte Gruppe unter den Schülern stellen, "gefolgt von 26,1 Prozent mit türkischem Migrationshintergrund. Der Gesamtanteil der Jugendlichen nichtdeutscher Herkunft beträgt 83,2 Prozent. In der siebten Klasse liegt der Araber-Anteil bereits bei 44 Prozent, Tendenz weiter steigend."

Weiter heißt es: "Wir müssen feststellen, daß die Stimmung in einigen Klassen zur Zeit geprägt ist von Aggressivität, Respektlosigkeit und Ignoranz uns Erwachsenen gegenüber. Notwendiges Unterrichtsmaterial wird nur von wenigen Schülern mitgebracht. Die Gewaltbereitschaft gegen Sachen wächst; Türen werden eingetreten, Papierkörbe als Fußbälle mißbraucht, Knallkörper gezündet und Bilderrahmen von den Flurwänden gerissen."

Auch für die Gewalt gegen die Medienvertreter haben die Rütli-Lehrer eine Erklärung: "Laut Aussage eines Schülers gilt es als besondere Anerkennung im Kiez, wenn aus einer Schule möglichst viele negative Schlagzeilen in der Presse erscheinen. Die negative Profilierung schafft Anerkennung in der Peer-Group."

Die Lehrer haben schlicht Angst vor ihren Schülern. Während an bayerischen Schulen das Benutzen von Handys neuerdings verboten ist, gehören sie in Berlin zum lebensnotwendigen Unterrichtsutensil: "In vielen Klassen ist das Verhalten im Unterricht geprägt durch totale Ablehnung des Unterrichtsstoffes und menschenverachtendes Auftreten; Lehrkräfte werden gar nicht wahrgenommen, Gegenstände fliegen zielgerichtet gegen Lehrkräfte durch die Klassen, Anweisungen werden ignoriert. Einige Kollegen gehen nur noch mit dem Handy in bestimmte Klassen, damit sie über Funk Hilfe holen können."

Die Kontaktaufnahme mit der multiethnischen Elternschaft scheitert fulminant: "Auch von den Eltern bekamen wir bisher wenig Unterstützung in unserem Bemühen, Normen und Regeln durchzusetzen. Termine werden nicht wahrgenommen, Telefonate scheitern am mangelnden Sprachverständnis."

Die Lehrer sind ratlos: "Wenn wir uns die Entwicklung unserer Schule in den letzten Jahren ansehen, so müssen wir feststellen, daß die Hauptschule am Ende einer Sackgasse angekommen ist und es keine Wendemöglichkeit mehr gibt." Die Schule sei zum "Schauplatz für Machtkämpfe um Anerkennung geworden". Der Intensivtäter werde zum Vorbild. "Deshalb kann jede Hilfe für unsere Schule nur bedeuten, die aktuelle Situation erträglicher zu machen. Perspektivisch muß die Hauptschule in dieser Zusammensetzung aufgelöst werden zugunsten einer neuen Schulform mit gänzlich neuer Zusammensetzung."

Der Bezirksstadtrat Wolfgang Schimmang und Schulsenator Klaus Böger (beide SPD) stehen jetzt im Kreuzfeuer der Kritik. Die Bezirksverordnetenversammlung (BVV) debattierte bereits in der vergangenen Woche über den Neuköllner Bildungsstadtrat Zu dem Zeitpunkt hatte die Debatte die Neuköllner Bezirksgrenzen längst überschritten. Jetzt reagierten Senat und Bezirk, indem sie zwei Sozialarbeiter (einen türkisch- und einen arabischsprachigen) zur Schule schicken. Mittlerweile ist der seit langem verwaiste Posten des Schulleiters neu besetzt worden. Immer wieder hatten Lehrer versucht, sich wegversetzen zu lassen - vergeblich.

Und obwohl die Berliner CDU mit einem Spitzenkandidaten antritt, der wiederholt erklärt, sich von niemandem in Sachen Toleranz gegenüber fremden Kulturen und Religionen übertreffen lassen zu wollen (siehe Seite 6), greift auch sie das Thema auf. "Gewalt, Ausgrenzung und Terror gegen Lehrer und Mitschüler gehören seit Jahren zum Alltag an vielen Berliner Schulen", sagte Nicolas Zimmer, der Fraktionsvorsitzende, der auch einen Schuldigen ausgemacht hatte: den rot-roten Senat.

Das Bildungssystem als Fehlerquelle

Und auch Berlins Ausländerbeauftragter Günter Piening, der längst zum "Beauftragten für Integration und Migration" mutiert ist, sah sich zu einer Stellungnahme gezwungen. Nicht die Ausländerkinder sind schuld, sondern die Arbeitslosigkeit und das Bildungssystem: "Der Hilferuf der Rütli-Schule zeigt auf dramatische Weise, wie sich die zerstörerischen Folgen der Jugendarbeitslosigkeit in die Hauptschulen verlagern. Hier offenbart sich brutal die traurige Realität, daß viele Hauptschulen ihrer Klientel kaum etwas anzubieten haben."

Offensichtlich überwiegt bei den politisch Zuständigen im Bezirk Neukölln noch immer die Vorstellung, mit "social engineering" der Lage Herr zu werden. Diese aus dem Soziologenjargon stammende Formulierung paßt zur Formulierung der Lehrer, die sich auf die sogenannte Peer-Group bezogen.

Daß die Kenntnisse aus den Universitätsseminaren in der knallharten Realität nicht weiterhelfen, spricht sich eben erst sehr langsam herum. Die Lehrer sind mittlerweile dort angekommen. Für ihre Vorgesetzten gilt jedoch, was die Gewerkschaft der Polizei einen "fortschreitenden Realitätsverlust der Politik" nennt.

Foto: Reporter umlagern die Rütli-Schule in Berlin-Neukölln: Im Fokus der Öffentlichkeit


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