© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 15/06 07. April 2006

"Wenn jeder sein Bestes gibt, dann gehören wir alle zur Elite"
Malte Herwig macht sich Gedanken, wie ein neues Bewußtsein aus dem Jammertal der Bundesrepublik führen kann
Doris Neujahr

Institutionen wie die Renten- und Krankenversicherung, die jahrzehntelang die spirituelle Mitte des Landes repräsentierten, indem sie für Massenwohlfahrt sorgten, fangen an, ihren Dienst zu versagen. Parteien, Regierungen und Parlamente, die bewährten Kompromißgremien, die allen stets nur wohl und keinem wehe wollten, weil stets genug da war zum Verteilen, erweisen sich als ratlos. Folglich wird der Ruf nach einer Elite laut, die es richten soll.

Der kluge Journalist Malte Herwig (Jahrgang 1971) stellt in seinem Essay heraus, daß das Wort "Elite" keinen angeborenen oder einmal eroberten und dann unverlierbaren Status bezeichnet, auch keine Medienbekanntheit und keine "Funktionselite" - ein Begriff, der Amtsinhaber ohne Ansehen ihrer ethischen und fachlichen Qualifikation subsumiert. Er erinnert in seiner weit ausholenden Begriffsgeschichte daran, daß Elite sich von einem Verb - "eligere", auswählen - herleitet. Die Elite muß sich als solche täglich neu beweisen. Sie ist das bürgerliche, leistungsbezogene Pendant zum Adel bzw. seine zeitgemäße Fortsetzung. Edgar J. Jung definierte vor gut achtzig Jahren in der "Herrschaft der Minderwertigen" den Adel nicht mehr als biologische Tatsache, sondern als erworbenen Verdienst. Er wird durch eine "höchste Form der Dienstschaft" begründet und ist "eigentlich nichts anderes (...) als eine Verkörperung des Menschen als Gesellschaftswesen". Natürlich zitiert Herwig nicht Jung, sondern den Zivilisationsliteraten Heinrich Mann, der das zur selben Zeit ganz ähnlich ausgedrückt hatte. Elite braucht Bildung! Informativ sind die Streiflichter über die deutsche Bildungsgeschichte. Was in den 1960er Jahren als Demokratierung der Universitäten in Gang gesetzt wurde, ist heute als Statusverlust zu beklagen. Die Politik definiert die Aufgabe der Universitäten zunehmend als Zuarbeiter für die Wirtschaft. Dabei sei erwiesen, daß eine zweckfreie Forschung viel mehr kreatives Potential freisetze und letztlich auch ökonomisch effektiver sei. Doch wo ist sie in Deutschland noch möglich? Wissenschaftler verschleißen sich in der Bürokratie und in der Jagd nach Drittmitteln. Herwig stellt dem seine eigenen, positiven Erfahrungen an Eliteuniversitäten in den USA und England gegenüber.

Nicht immer mag man dem Autor folgen. Hatte in den 1970er Jahren tatsächlich "eine bescheiden und nüchtern gewordene technokratische Funktionselite das Ruder" übernommen? Sicher, so hätte Kanzler Helmut Schmidt es gern gehabt, aber in Wirklichkeit begann die Erosion der Staatsfinanzen. Überhaupt ist zu wenig von den gesellschaftspolitischen Voraussetzungen die Rede. Hat der Mangel an Elite nicht auch etwas zu tun mit der Art und Weise, wie sich die politische Klasse des Landes konstituiert und mit dem von den Alliierten verordneten Neubau der Bundesrepublik aus dem provinziellen Geist des Föderalismus? "Wenn jeder sein Bestes gibt, dann gehören wir alle zur Elite." Das klingt wie aus der Neujahrsansprache von Angela Merkel und ist als abschließender Satz eines sonst blitzgescheiten Buches ein bißchen zu wenig.

Malte Herwig: Eliten in einer egalitären Welt. wjs Verlag, Berlin 2005, 181 Seiten, gebunden, 18 Euro


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