© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 16/06 14. April 2006

Heillose Reformen
Die Gesetzliche Krankenversicherung vor der nächsten großen Operation
Jens Jessen

Der 2004 eingeführten Gesundheitsreform (Gesundheitsmodernisierungsgesetz/GMG) soll nun eine weitere Reform folgen. Es geht um eine Verbreiterung der Finanzierungsbasis der Gesetzlichen Krankenversicherung (GKV), weil die Einnahmen aus der erhöhten Tabaksteuer nicht mehr in die GKV, sondern in den allgemeinen Haushalt fließen sollen. Eine Lücke von 4,2 Milliarden Euro ist die Folge für die Krankenkassen. Speziell den "Neoliberalen" werden Reformen mit dem Schlagwort schmackhaft gemacht, daß im Gesundheitswesen zu viel Planwirtschaft und zu wenig Markt herrsche. Nach dem Motto: An den Wettbewerb - den teuren - schließt euch an.

Ein Blick auf Großbritannien, die Schweiz und die USA entlarvt den versprochenen Wettbewerb aber als Chimäre. Der Direktor des britischen National Health Service (NHS), Nigel Crisp, mußte im März 2006 zurücktreten, weil die Reform des Gesundheitswesens mit simuliertem Wettbewerb und viel Wahlfreiheit der Patienten zu einer Kostenexplosion führte. Seit 2000 wuchs das Budget um rund 40 Prozent auf 74 Milliarden Pfund (108 Milliarden Euro) für 2005/06.

In der Schweiz trat 1996 das Krankenversicherungsgesetz (KVG) in Kraft. Ziel war eine Kostendämpfung durch Vertragsfreiheit der Ärzte und freie Kassenwahl der Versicherten. Kopfprämie, Hausarztmodell und Ärztenetze sind die dafür eingeführten Instrumente. Die anfangs niedrigen Kopfpauschalen stiegen in den letzten neun Jahren um 56 Prozent. Das US-Gesundheitswesen basiert auf dem Wettbewerb. Es befindet sich dennoch wieder einmal in einer schweren Krise. Ein Sechstel der Bevölkerung ist nicht versichert. Von 2001 bis 2005 sind die Krankenversicherungsprämien jährlich um 9,2 bis 13,9 Prozent gestiegen. Die Wachstumsrate des Bruttoinlandsprodukts (BIP) wurde damit weit übertroffen.

Wettbewerb in Deutschland hieße Privatisierung des Gesundheitswesens. Alles andere wäre Simulation eines Wettbewerbs. Kosten und Qualität müßten sich in den Preisen für erbrachte Gesundheitsleistungen und -produkte niederschlagen. Wettbewerb gibt es nur mit privaten Krankenversicherungen (PKV), mit Privatärzten, privatisierten Krankenhäusern und Arzneimittelherstellern, deren Preise sich nach Angebot und Nachfrage richten. Eine Zersplitterung des Gesundheitssystems wäre sicher. Die Sicherstellung der Gesundheitsversorgung wäre gefährdet. Die Zahl der Versicherten könnte sich verringern, wenn die hohen Prämien nicht mehr bezahlbar wären.

Eine Million Arbeitslose führen zu Einnahmeverlusten von etwa drei Milliarden Euro für die GKV, fünf Millionen Arbeitslose zu fünfzehn Milliarden Einnahmeminderung. Diese Relation gilt auch für die Rentner, da deren Beiträge nur 36 Prozent der verursachten GKV-Kosten abdecken. Eine Million Vollzeitarbeitskräfte spülen bei einem Beitragssatz von 13 Prozent etwa fünf Milliarden Euro pro Jahr in die GKV. Teilzeitbeschäftigte entsprechend weniger. Zur Zeit gibt es fünf Millionen Arbeitslose, 1991 waren es 1,9 Millionen. Der Anteil der Teilzeitbeschäftigten ist seit 1996 von 16,3 Prozent auf 22,8 Prozent angewachsen. Der GKV fehlen deshalb Jahr für Jahr mehr Mittel.

So kommt es zu dem Phänomen, daß der Anteil der GKV-Ausgaben am Bruttoinlandsprodukt (BIP) seit 1996 nahezu unverändert ist (Statistisches Bundesamt in der Gesundheitsausgabenrechnung 2005: 6,6 Prozent 1996 auf 6,7 Prozent 2002), die Versorgung der Versicherten aber nur durch laufende Beitragssatzerhöhung finanziert werden kann. Schließlich hat jeder Versicherte das Recht auf gleiche Versorgung, egal ob er Vollzeitbeschäftigter, Teilzeitbeschäftigter, Familienangehöriger, Rentner, Arbeitsloser oder Sozialhilfeempfänger ist.

Die heillose Wurschtelei der schwarz-roten Großkoalitionäre läßt Schlimmes vermuten. Die Konzentration auf die Senkung der Kosten und eine Verbreiterung der Finanzierungsbasis ist eine Bankrotterklärung. Anstatt alle Kräfte für den dringlichen Abbau der Arbeitslosigkeit zu bündeln, wird von den Politikern in dem komplexen Gesundheitsbereich herumgefummelt. Der Versicherte soll bluten, um vom Versagen der Arbeitsmarktpolitik ablenken zu können. Wenn alle an den Kosten des Gesundheitswesens solidarisch beteiligt werden sollen, wäre die Finanzierung des Gesundheitswesens durch Steuern wie etwa in Dänemark angebracht.

Derzeit werden 13 bis 14 Prozent des Einkommens bis zur Beitragsbemessungsgrenze von 3.525 Euro von den Krankenkassen erhoben. Davon übernimmt der Arbeitgeber die Hälfte. Diese Hälfte ist ökonomisch gesehen ein Lohnbestandteil, da er in die Kostenrechnung des Arbeitgebers eingeht. Eine Erhöhung der Löhne um den derzeitigen Arbeitgeberanteil (der dann wegfallen würde) und eine entsprechende Erhöhung der Steuern zur Finanzierung der Gesundheitsausgaben hätte drei Ergebnisse: Die Lasten würden sozial gerecht verteilt, Bundestag und Bundesregierung müßten Verantwortung tragen und die populistischen Angriffe gegen die Leistungserbringer würden unterbunden. Arbeitsplätze schaffen wäre ein Muß, um das Steueraufkommen zu erhöhen, mit dem dann auch das Gesundheitswesen finanziert wird. Die Dänen jedenfalls sind nach Umfragen mit ihrem steuerfinanzierten Gesundheitssystem sehr zufrieden.


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