© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 16/06 14. April 2006

Langwieriger Lernprozeß
Geschichtspolitik: Die Publizistin Helga Hirsch sucht nach Gründen für die polnische Ablehnung des Zentrums gegen Vertreibungen
Ekkehard Schultz

Was sind die Gründe, daß insbesondere in Polen, aber auch in Tschechien die Errichtung eines Zentrums gegen Vertreibungen in Berlin auf eine solch massive Ablehnung stößt? Gibt es einen Weg, auf dem sich die deutsch-polnischen Irritationen mittelfristig überwinden lassen? Diesen Fragen widmete sich in der vergangenen Woche die langjährige Warschau-Korrespondentin der Zeit, Helga Hirsch, auf einer Veranstaltung der Konrad-Adenauer-Stiftung in Berlin.

Hirsch verwies auf das Überleben alter nationaler Geschichtsmythen in den östlichen Reformstaaten. Diese Mythen - aufgrund der kommunistischen Vergangenheit nie gründlich aufgearbeitet - orientierten sich am klassischen Täter-Opfer-Schema, welches jede Differenzierung und auch die Wahrnehmung des Leides von anderen praktisch unmöglich mache.

Ausführlich ging Hirsch auf das Beispiel Polen ein. Bis in die neunziger Jahre dominierte dort einseitig sowohl in der Gesellschaft als auch in der polnischen Forschung ein Geschichtsbild, in dem sich die Polen als Volk sahen, das sich mit seinen größeren Nachbarn in einem ständigen Kampf für die Freiheit und gegen Unterdrückung befindet.

Dieser Mythos wurde noch durch den Glauben verstärkt, daß die Polen in dieser speziellen Rolle eine Vorbildfunktion für alle anderen unterdrückten Völker hätten, die ebenfalls auf ihre eigene Befreiung hofften. Jedes auch nur partielle Infragestellen dieser Theorie wurde als Angriff gegen das polnische Volk gewertet. Erst die intensive und lebhafte Debatte über den Fall Jedwabne Ende der neunziger Jahre vermochte dieses polnische Geschichtsbild stärker zu erschüttern. In der Ortschaft Jedwabne waren 1941 über 200 jüdische Bewohner von Polen ermordet worden.

Nun sorge die von einigen polnischen Forschern gestützte These, daß keineswegs nur die Alliierten mit ihren Beschlüssen die Vertreibung der Deutschen zu verantworten haben, sondern daß es gleichfalls eine starke polnische "Mithilfe" an diesem Geschehen gab, für noch größere innerpolnische Debatten. Doch bevor diese Erkenntnis tatsächlich Einzug in größere Teile der Gesellschaft halte, sei noch ein langer Weg erforderlich, dessen Grundsteine jedoch bereits gelegt seien, sagte Hirsch.

Geringes Wissen über die Geschichte der Nachbarn

Bereits die Diskussion um Jedwabne hatte Gegner auf den Plan gerufen, die Wissenschaftler, die sich um ein differenzierteres Geschichtsbild bemühten, des "nationalen Verrats" beschuldigten.

Eine wesentliche Ursache für die Ablehnung des Zentrums gegen Vertreibungen in Polen sieht Hirsch in dem geringen Wissen über die Geschichte des jeweiligen Nachbarn, was aber nicht nur für Polen, Tschechien oder Ungarn, sondern auch für die deutsche Seite gelte. Neue wissenschaftliche Erkenntnisse bahnten sich überall nur sehr langsam den Weg in Schulbücher und Lehrpläne. Die Veränderung von historischen Betrachtungsweisen auch bei der jüngeren Generation sei daher ein langwieriger und mühseliger Weg, in dem auch immer wieder mit Rückschritten gerechnet werden müsse.

Entscheidend sei aber nicht nur das Wissen allein. Regelmäßige Kontakte, so Hirsch, können dem Abbau von Ängsten dienen. In den meisten Gebieten, in denen es kontinuierliche Begegnungen etwa zwischen deutschen Vertriebenen und polnischen "Nachkriegssiedlern" gebe, seien die Vorbehalte spürbar geschwunden. Die Ablehnung des Zentrums gegen Vertreibungen - aber auch generell vor "den Deutschen" - sei demgegenüber bei Polen dort am größten, wo diese Kontakte nicht vorhanden seien, im heutigen Zentral- und Ostpolen.

Generell müsse die Toleranz für andere Perspektiven erst erlernt werden, sagte Hirsch. Wer von anderen eine Anerkennung für das eigene Leid bzw. das seiner Familie verspürt, werde sich leichter gegenüber dem Unrecht öffnen, das anderen angetan wurde.

Ebenso wichtig sei es, das Bewußtsein dafür zu schulen, daß kein Volk nur Opfer oder nur Täter in der Geschichte sei. Um diese Erkenntnis zu fördern, schlug Hirsch vor, im Austausch mehr als nur zwei Seiten zu Wort kommen zu lassen. So habe es sich bereits als positiv herausgestellt, wenn zum deutsch-polnischen Dialog auch die ukrainische Seite herangezogen werde. Dann gerieten die einfachen Zuschreibungen nach dem Motto "Ich Opfer - Du Täter", schnell ins Wanken.

Hirsch stellte klar, daß ihrer Ansicht nach jedes Volk ein Recht darauf habe, individuell wahrgenommenes Leid zu thematisieren, selbst dann, wenn dieses nach strikten historischen Maßstäben kleiner als das Leid anderer sein sollte. Während die Wissenschaftler die Pflicht habe, kühl und sachlich zu urteilen und dabei auch zu gewichten, stehe den vom Leid Betroffenen das Recht auf einen Ort für ihre konkrete Trauerarbeit zu. Nur dann könne es tatsächlich zu einer Aussöhnung kommen.

Kritik an Steinbach als "Schutzbehauptung"

In der Diskussion zeigte sich jedoch schnell, daß die eingeforderte Vielschichtigkeit des Denkens selbst den bei der Veranstaltung Anwesenden keineswegs immer leichtfällt. So erhob ein polnischer Teilnehmer den Vorwurf, daß die Bedenken gegen das Zentrum einzig und allein auf der Person der Vorsitzenden des Bundes der Vertriebenen, Erika Steinbach beruhten.

Hirsch wies eine solche Argumentation als unbegründete "Schutzbehauptung" zurück. Gerade Steinbach sei mit ihren bisherigen engagierten Aktivitäten weit über das hinausgegangen, was man von der Vertreterin eines Verbandes, der berechtigterweise einen Ort für die eigene Trauer einfordere, erwarten könne und habe auf diesem Weg immer wieder Vertretern der polnischen Seite die Hand gereicht.

So müsse man sich eher darüber wundern, daß es in den Reihen der Vertriebenen nicht weit mehr Proteste gegen eine solche Haltung gebe. Zudem wies Hirsch darauf hin, daß Steinbach als BdV-Vertreterin lediglich eine Stimme von insgesamt fünfzehn im Stiftungsrat des Zentrums habe und damit diesbezügliche Bedenken jeder Grundlage entbehrten.


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