© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 16/06 14. April 2006

Das spannende Finale kommt erst noch
Ungarn: Sozialliberale Koalition gewinnt erste Runde der Parlamentswahl / Konservative Zweite / Linke und Rechte gescheitert
Jörg Fischer

Seit dem politischen Umbruch 1989 wurde in Ungarn jede Regierung nach vier Jahren abge-wählt. 1990 bildete eine antikommunistische Koalition unter József Antall die erste Nachwende-Regierung. 1994 gewannen die postkommunistischen Sozialisten (MSZP) und regierten mit Ex- Außenminister Gyula Horn an der Spitze und den linken, aber wirtschaftsliberalen Freien Demokraten (SZDSZ) bis 1998. Es folgte eine konservativ-rechtsliberale Koalition unter Viktor Orbán, die 2002 von einem MSZP-SZDSZ-Bündnis abgelöst wurde. Nach der ersten Runde der Parlamentswahlen vom 9. April sieht es nun aber danach aus, daß die Koalition weiterregieren kann.

Denn die bisherige parlamentarische Opposition, die sozial-konservativen "Jungdemokraten" (Fidesz) von Ex-Premier Viktor Orbán kamen im Wahlbündnis mit den Christdemokraten (KDNP) lediglich auf 42,03 Prozent der Listenstimmen. Der Bündnispartner von 2002, das konservativ-wirtschaftsliberale Ungarische Demokratische Forum (MDF), das mit Fidesz inzwischen aber verstritten ist, kam mit 5,04 Prozent nur denkbar knapp über die Fünf-Prozent-Hürde. Das Oppositionslager legte zwar um insgesamt über sechs Prozent zu. Aber das Regierungslager gewann ebenfalls hinzu: Die MSZP von Premier Ferenc Gyurcsány erreichte 43,21 Prozent (+1,16 Prozent), der SZDSZ 6,50 Prozent (+0,93 Prozent).

Erneut gescheitert sind die außerparlamentarischen Rechten und Linken. Die rechte Ungarische Wahrheits- und Lebenspartei MIÉP, die diesmal im Bündnis mit der rechten Fidesz-Abspaltung Jobbik antrat, wurde von 4,37 Prozent auf 2,2 Prozent halbiert.

Der Arbeiterpartei (MP), die 1989 als Linksabspaltung aus der kommunistischen ungarischen "Einheitspartei" MSZMP hervorging - die Mehrheit lief zur MSZP über - endete diesmal als Splitterpartei mit 0,41 Prozent (2002: 2,16 Prozent). Die von Parteichef Gyula Thürmer Ende 2005 initierte Umbenennung in Ungarische Kommunistische Arbeiterpartei (MKMP) kam beim Wähler überhaupt nicht gut an. Seit 1990 hatte die MP stabil bei knapp drei bis vier Prozent gelegen. Andere Kleinparteien wie das bürgerliche Centrum, das 2002 noch 3,9 Prozent erreichte, oder die neugegründeten Grünen schnitten allerdings noch schlechter ab.

Kompliziertes Wahlrecht mit taktischen Möglichkeiten

Beim zweiten Wahlgang am 23. April geht es daher allein um die entscheidende Mandatsstärke von nur vier Parteien: Die Sozialisten können bislang auf 105 Mandate zählen - 34 Direkt- und 71 Listenkandidaten. Der kleine Regierungspartner SZDSZ (der seine Hochburg in der Hauptstadt Budapest hat) kam auf vier Mandate durch Listenkandidaten. Außerdem schafften vier gemeinsame MSZP-SZDSZ-Kandidaten den direkten Sprung ins Parlament. Die Fidesz-Opposition errreichte 97 Mandate - 28 Direkt- und 69 Listenkandidaten. Das MDF brachte es auf zwei Mandate von Territoriallisten.

Das Regierungslager liegt vorerst mit 113 zu 99 Oppositionsmandaten klar vorn. Aber das ungarische Wahlrecht ist sehr kompliziert. 386 Sitze sind zu vergeben - 174 sind jetzt noch vakant. Insgesamt gibt es 176 Einzelwahlkreise mit Direktkandidaten. In der ersten Runde werden zudem 152 Sitze über die Territoriallisten vergeben. Die übrigen 58 Sitze werden über die Landeslisten in einem komplizierten Reststimmenverfahren verteilt.

Im ersten Wahlgang hatte jeder der etwa 8,1 Millionen Wahlberechtigten in Ungarn zwei Stimmen - also ähnlich wie bei der Bundestagswahl eine Direktkandidaten- und eine Parteistimme. Da in der Regel nur wenige Wahlkreiskandidaten schon im ersten Durchgang über 50 Prozent erreichen, findet zwei Wochen später eine Stichwahl in den unentschiedenen Wahlkreisen statt. In der zweiten Wahlrunde erhält der Wähler nur einen Stimmzettel für den Kandidaten im Wahlkreis. Hier können die drei bestplatzierten Kandidaten der ersten Runde nochmals antreten - zur Direktwahl reicht dann die einfache Mehrheit. Vor der zweiten Wahlkunde kommt es aber dann oft zum taktischen Rücktritt von eigenen Kandidaten zugunsten "befreundeter" (Koalitions-)Parteien.

Und das ist der entscheidende Vorteil der bisherigen Regierungskoalition: MSZP und SZDSZ fallen Verzichtsabsprachen wesentlich leichter als den oppositionellen Parteien Fidesz und MDF. MDF-Chefin Ibolya Dávid, die laut Umfragen zu den beliebtesten Politikern des Landes gehört, kündigte noch in der Wahlnacht an, daß ihre Partei weder Orbán "zur Macht verhelfen" noch Premier Gyurcsány "assistieren" wolle. Am Montag legte sie nochmal nach, und erklärte, sie würde selbst dann keine Koalition mit Orbán eingehen, wenn er ihr den Posten der Regierungschefin anböte.

Angesichts dieses Oppositionsstreits frohlockte SZDSZ-Chef Gábor Kuncze schon, seine Partei und die MSZP hätten "sehr große Reserven", um das Weiterregieren der Koalition abzusichern. Ob damit im Falle eines Falles auch das MDF als dritter Partner gemeint war, blieb offen. Die MIÉP hat übrigens noch keine Wahlempfehlung gegeben.

Foto: TV-Debatte mit Regierungschef Gyurcsány und SZDSZ-Chef Kuncze (l.) sowie Ex-Premier Orbán und MDF-Chefin Dávid (r.): Das konservativ-wirtschaftsliberale MDF könnte Zünglein an der Waage werden


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