© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 16/06 14. April 2006

Die Rache der totgeschlagenen Zeit
Zwischen den Sprachen: Vor hundert Jahren wurde der irische Schriftsteller Samuel Beckett geboren
Silke Lührmann

Womöglich sollte man gar keine großen Worte machen um einen, dem die Worte am Ende so zuwider waren als "unnötiger Flecken auf Schweigen und Nichts". Seinen Nobelpreis erhielt Samuel Beckett 1969 "für eine Dichtung, die in neuen Formen des Romans und des Dramas die künstlerische Aufrichtung des Menschen aus seiner Verlassenheit erreicht", und auch dies scheint der Worte zu viele.

Verlassen, und wie! Woran sich der Mensch hier aber bitte schön künstlerisch aufrichten soll, bleibt das Geheimnis der Schwedischen Akademie der Schönen Künste. Beckett, dessen Frau die Auszeichnung undankbar "eine Katastrophe" nannte, blieb der Zeremonie fremd. Das Geld, heißt es, habe er unter bedürftigeren und unbedarfteren Künstlerkollegen verteilt.

Sich selber entheimatete er, geographisch und dann sprachlich, weil er Gewöhnung als "Krebsgeschwür" empfand, und gönnte weder seinen Figuren noch seinem Publikum Behagen. Kein Wunder, daß "Warten auf Godot" seine eigentliche Sternstunde 1957 vor 1.400 Insassen des kalifornischen Staatsgefängnisses San Quentin feierte!

Wo Zeitgenossen noch die Dialektik zwischen Schein und Sein austrugen, nutzte - nein: mißbrauchte, im allerbesten Wortsinn - Beckett die Bühne als Schauplatz radikaler Absage. Hier wurde Verzicht geübt auf alles, was das Leben lebenswert oder auch nur erträglich macht. Wenn er seinen Männerfreund James Joyce besuchte, sollen sie stundenlang schweigend dagesessen haben, jeder in die eigene Traurigkeit versunken: So will es jedenfalls die Legende, die sich der beiden Iren längst als Jahrhundertschriftsteller bemächtigt hat. (In der DDR allerdings, die ein zu absurder Staat war, als daß ihre Kulturkader das Absurde zu schätzen gewußt hätten, mußten Theatergänger bis 1987 auf Godot mit seinem "spätkapitalistischen Nihilismus" warten.)

Er bildete sich ein, "ohne Stil" schreiben zu können

Er schrieb zwischen den Sprachen, "ohne Stil", wie er allen Ernstes glaubte, übersetzte sich selber vom Englischen ins Französische und vom Französischen zurück in die Muttersprache. Die 2003 aufgefundenen Tagebuchaufzeichnungen seiner Deutschland-Reise 1936/37 zeugen von einem an Irrwitz grenzenden Wortwitz: "Supper (Kohlroulade oder gestopfter Kohl with Herr Hoppe as Tischgenossen (not Mitesser = skin maggot)." Die Leibspeise der Nazis, deren als obszöne Machtparade inszenierte Olympiade er in Berlin miterlebte, sei "Arish Stew", fabulierte er in Anlehnung an das irische Nationalgericht, leitete den "Alptraum" von der erdrückenden Schwere deutscher Federbetten her und ließ sich Aalsuppe schmecken, in die bekanntlich allens rinkümmt, nur kein Aal.

Kauzig und spröde sei er gewesen, dabei keineswegs uncharmant, ein zuvorkommender Gastgeber, wie Freunde bezeugen, auf den die Frauen flogen, Joyces Sorgentochter Lucia zum Beispiel. Daß er deren Zuneigung nicht recht zu erwidern vermochte, möchte die Literaturwissenschaft - immun gegen den Zeitgeist, wie sie nun einmal nicht ist - seinem schwierigen Verhältnis zur eigenen Mutter anlasten. Alkohol und eine perforierte Lunge verliehen seiner hageren, ausgezehrten Gestalt die Aura des Totenschädels, auf den er alle menschliche Existenz in seinem Spätwerk konsequent reduzierte. (Der Bettler, der ihm 1937 den Messerstich in die Brust zufügte, begründete seine Tat, auch so will es die Legende, als spreche er für eine Rolle in einem Beckett-Stück vor: "Je ne sais pas, monsieur!")

Wie aber sich die Worte versagen, sind doch die seinen längst zu geflügelten geworden? Trotz allem auf Godot zu warten, heißt die Hoffnung im vollen Bewußtsein ihrer Vergeblichkeit nicht aufzugeben. Darin mag Trost finden, wer kann, ansonsten bleibt nur ebendies, das "Trotz" und der Trotz: daß nämlich in Wirklichkeit - so man geneigt ist, diese von ihrer dramaturgischen Verfremdung zu unterscheiden - alles höchstens halb so schlimm sei. Warten zum Selbstzweck erhoben biete einen durchaus angenehmeren Daseinsgrund als seine endgültige Enttäuschung, geschweige denn (schon wieder dieses Schweigen) Erfüllung im Tod.

Estragon und Wladimir haben ja auch Spaß, wie sie da den lieben langen Tag neben ihrem Baum ausharren und allerlei Absonderliches von sich geben, jedem Sozialarbeiter, der sie gern zu mündigen Steuerzahlern erzogen hätte, ein Dorn im Auge. Und selbst die derart totgeschlagene Zeit erhebt sich aus dem Grabe, um Rache an ihren Peinigern zu nehmen: Morgen ist auch noch ein Tag.

Beckett selber war ein langes, nach herkömmlichen Maßstäben abwechslungsreiches und produktives, immerhin, wenn auch katastrophal nobelpreisgekröntes Leben beschert. Geboren wurde er 1906 als Sohn eines Kostenplaners im Bauwesen und einer Krankenschwester in Foxrock bei Dublin, am Karfreitag oder vielleicht auch nicht: Auf seiner Geburtsurkunde soll 13. Mai stehen. Im überwiegend katholischen Irland, dessen Südteil 1921 den Briten die Unabhängigkeit abtrotzte, wuchs er in einem protestantischen Haushalt auf und will schon als Junge "kaum Talent zum Glücklichsein" besessen haben - Sport und Fremdsprachen lagen ihm eher.

Die akademische Laufbahn, die er hätte einschlagen können, brach Beckett 1932 ab, um sich ganz der Schreiberei zu widmen. Schließlich hatte seine erste Gedichtveröffentlichung, eine knapp hundertzeilige und mit siebzehn Fußnoten versehene Meditation über Omelette und das Wesen der Zeit, die er René Descartes in den Mund legte, auf Anhieb einen Literaturwettbewerb gewonnen.

Die Verzweiflung kam schnell wieder aus der Mode

Nach dem Tod des Vaters 1933 lebte er von seiner Erbschaft, mütterlichen Finanzspritzen und Gelegenheitsjobs zunächst in London, ab 1937 wieder in Paris. Dort hatte er nach dem Romanistik-Studium am Dubliner Trinity College bereits zwei Jahre verbracht, den 24 Jahre älteren Joyce kennengelernt, an der École Normale Supérieur Englisch unterrichtet, eine flammende Ehrenrettung von Joyces "Ulysses" und eine nicht minder brillante Magisterarbeit über Marcel Proust verfaßt.

Die Prosasammlung "Mehr Prügel als Flügel" erschien 1934, sein Roman "Murphy" 1938. Als Mitglied einer aufgeflogenen Zelle der Résistance mußte Beckett 1942 zusammen mit seiner Lebensgefährtin und späteren Ehefrau, der Pianistin Suzanne Deschevaux-Dumesnil, im unbesetzten französischen Süden untertauchen. In der ländlichen Abgeschiedenheit entstand ein weiterer Roman, "Watt".

Mit der Rückkehr nach Paris begann eine intensive Schaffensperiode, die in den spektakulären Erfolgen von "Warten auf Godot" (Uraufführung 1953) und "Endspiel" (1957) gipfelte. Dank Sartre und Camus trat das Nichts gerade seinen Siegeszug durch europäische Intellektuellenzirkel und amerikanische Studentenheime an. Die Zunft der Bühnenautoren zeigte sich ebenfalls angetan von den neuen Ausdrucksformen, die Beckett erschloß, indem er die alten ignorierte. Als er 1989 starb, war die Verzweiflung mitsamt ihrem kleinen Bruder, dem Zweifel, schon wieder aus der Mode gekommen.

Wenn Beckett denn am Karfreitag geboren wurde, wäre er an diesem Gründonnerstag hundert geworden. Daß Godot niemals kommen wird, hat sich inzwischen bis zur letzten Studentin im Einführungskurs Moderne Literatur herumgesprochen.

Foto: Samuel Beckett (1967): Zum Glücklichsein hatte er "kaum Talent"

Weiterführende Lektüre: James und Elizabeth Knowlson (Hrsg.), Beckett Erinnerung, Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 2006, gebunden, 360 Seiten, 22,80 Euro


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