© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 16/06 14. April 2006

Gründungsvater der modernen Bildungsidee
Ein Tagungsband über den Schriftsteller, Philosophen und Theologen Johann Gottfried Herder und seine Aktualität im Land der Rütli-Schulen
Ingo Wolters

Johann Gottfried Herder aus dem Städtchen Mohrungen in Ostpreußen, das er 1762 mit 18 Jahren verließ, um es nie wiederzusehen, ist ein spröder Klassiker. Was nichts anderes heißt als: Er wird noch weniger gelesen als die anderen Olympier, die sich wie er um 1800 vornehmlich in Weimar aufzuhalten pflegten. Wenn von Herder allenfalls der Name und eine vage Vorstellung davon geblieben, seine Geschichtsphilosophie habe das "Erwachen" des Nationalbewußtseins vornehmlich der "slawischen Völker" befördert, könnte diese Schattenexistenz in unserem kulturellen Gedächtnis auch damit zu tun haben, daß er der einzige professionelle Theologe unter den Klassikern war. Das gottesgelehrte Orientierungswissen, das Herder bereitstellte, verlor aber gerade im "naturwissenschaftlichen" 19. Jahrhundert, das dem 1803 verstorbenen Weimarer Generalsuperintendenten folgte, rasant so an Wert, daß Arno Schmidt, ein Kind des frühen 20. Jahrhunderts, selbstverständlich auf die Frage "Atheist?" - "Was sonst?" antworten durfte.

Herders Geschichts- und Sprachphilosophie, die philosophische Anthroplogie, die Vernunftkritik, die Bildungsphilosophie, in der Humboldts Neuhumanismus gründet, also die großen Areale der Geistesgeschichte, auf denen er durchaus Bahnbrechendes geleistet hat, blieben vom Ansehensverlust der Theologie nicht unberührt, da sein Denken von seiner Religiosität nicht zu trennen, selbst wenn diese eine unorthodoxe, oder wie Matthias Wolfes es nennt, eine "freie" oder pantheistisch-spinozistische war.

Aber auch innerhalb seiner eigenen "Fakultät" ist eine Wirkungsgeschichte bestenfalls mittelbar nachzuweisen. Bereits in seinem letzten Lebensjahrzehnt war absehbar, daß nicht Herder, sondern dem jüngeren Zeitgenossen Schleiermacher die theologische Zukunft gehören würde. Leicht resignativ eröffnete darum Thomas Zippert die Kommentierung der von ihm und Christoph Bultmann im Deutschen Klassiker Verlag im Rahmen einer immerhin zehnbändigen Werkausgabe edierten "Theologischen Schriften" (1994) mit der Feststellung: "Der Theologe Herder ist weitgehend aus dem Blickfeld der Theologie entschwunden."

Das war schon spätestens in der Zwischenkriegszeit nicht anders. Damals gerann zum Handbuchwissen, was der Leipziger Systematiker Horst Stephan herablassend formulierte: Herder habe den Anschluß an die klassische Dichtung und die kritische Philosophie verloren, habe sich in "gereizten Kampfschriften" verzettelt, unter denen "peinlich vor allem" jene gegen seinen ostpreußischen Landsmann Immanuel Kant gewesen seien.

Herders Restruhm genügte indes, zum 200. Todestag im Dezember 2003 in Weimar eine wissenschaftliche Tagung auszurichten, die ausgerechnet den Theologen wieder in den Mittelpunkt rückte. Ungeachtet dieses Schwerpunktes ist dennoch keine Veranstaltung für kirchen- und theologiehistorische Spezialisten daraus geworden, wie jetzt der unvermeidliche und trotzdem nicht wie eine Pflichtübung wirkende, von Martin Keßler und Volker Leppin edierte Tagungsband dokumentiert. Vielmehr sorgten die Referenten dafür, daß sich das Panorama von Herders Lebenswerk in seiner ganzen Breite entfaltet. So behandeln die Literaturwissenschaftler Gunter G. Grimm (Duisburg), Jürgen Brummack (Tübingen), Bernd Auerochs (Jena) und Hans Dietrich Irmscher (Köln) das Italienbild des Weimarer "Erzbischofs", sein unzeitgemäßes Zeitschriftenprojekt der Adrastea , seinen "Poesiebegriff" sowie seine "schwierige Freundschaft" mit Goethe. Und wenn auch die Sprachphilosophie stark in den Hintergrund tritt, so ergab sich bei den meisten dem Theologen Herder gewidmeten Studien der Brückenschlag zur Anthropologie und Geschichtsphilosophie wie von selbst.

Noch eine auf den ersten Blick so abseitig scheinende Untersuchung wie die Martin Keßlers über "Herders Kirchenamt", über seinen Berufsalltag als Seelsorger, Prediger und die "geistliche Aufsicht" im Weimarer Zwergstaat führender Generalsuperindentent gewinnt gegen Ende den Anschluß ans "Bedeutsam-Allgemeine". Denn, so arbeitet Keßler heraus, "zentral für das Selbstverständnis des Predigers" sei gewesen, daß Herder während der Formationsphase bürgerlicher Öffentlichkeit die Kirche als einzigen Ort der freien öffentlichen Rede ansah. Der Prediger sei daher der einzige "freie Redner seines Zeitalters" und müsse diese auch politische Freiheit von Restriktionen zum Vorteil des Gemeinwesens wahrnehmen. Das so von Herder definierte Predigtideal korrespondiere durchaus mit dem Freiheitsideal einer republikanischen Verfassung. Damit verwandelt Keßler den Aufklärungskritiker Herder nicht in einen Jakobiner, aber auf dem Feld des Politischen rückt er uns den Klassiker näher.

Um vergleichbare Aktualität sind die katholische Nürnberger Religionslehrerin Claudia Leuser und der Kölner Pädagoge Rainer Wisbert bemüht. Herder, das sei schließlich einer "der großen Gründungsväter der modernen Bildungsidee" (Wisbert), und die von ihm eingeforderte "Bildung der Seele durch Religion" habe eine "eminent politische Dimension" (Leuser). Bei Herder, so wagt Leuser im bildungsfernen Neudeutschland der Rütli-Schulen zu fordern, finde man eine "theologisch fundierte Sinnperspektive". Denn der Mensch werde allein durch Erziehung Mensch, durch Bildung seiner Denkart, seiner Gesinnungen und Sitten. Natürlich nach Maßgabe dessen, wie Leuser mutig bekennt, was "für uns Christen" entscheidend sei, nämlich die "ganzheitliche Menschenbildung" mit ihrer stark "emanzipatorischen Tendenz" der "Subjektwerdung des Menschen".

Daß sie sich mit dieser, Herder für das Zeitalter der "Globalisierung" aktualisierenden Deutung vom "theologisch-metaphysischen Fundament" (Wisbert) löst, das im 18. Jahrhundert verankert ist, kann dem Leser nicht verborgen bleiben. Aber vielleicht ist das der Preis, um Herder wieder "ins Spiel" bringen zu können. Zumal auch der von Wisbert avisierte Weg, das christlich-religiöse "Fundament" preiszugeben und Herders Bildungsidee auf den "Anspruch der Moderne" zu verkürzen, durch Erziehung alle Menschen in den Stand zu setzen, sich als "Subjekt der Geschichte" zu begreifen, inzwischen "postmodernen" Anfechtungen ausgesetzt sein dürfte.

Martin Keßler, Volker Leppin (Hrsg.): Johann Gottfried Herder. Aspekte seines Lebenswerkes. Verlag Walter de Gruyter, Berlin 2005, 433 Seiten, Abbildungen, gebunden, 118 Euro

Foto: Schattenriß von Johann Gottfried Herder mit seiner Frau Karoline am Kaffeetisch: Aus dem Blickfeld der Theologie entschwunden


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