© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 17/06 21. April 2006

"Rechtsstaat in der Abwärtsspirale"
ARE-Vorsitzender Manfred Graf von Schwerin über den größten Skandal der bundesdeutschen Justizgeschichte
Moritz Schwarz

Graf von Schwerin, Thema Enteignungen: Was geht mich das an?

Schwerin: Das denken viele, aber die Antwort wird Sie überraschen. Es sind nämlich zwei populäre Irrtümer über das Thema in Umlauf: Erstens, da ginge es nur um die Interessen von adligen Großgrundbesitzern, um die sogenannten "Junker".

Ein Graf, eine Herzogin - da liegt diese Vermutung allerdings nahe.

Schwerin: So gesehen ist es etwas verzwickt, daß ausgerechnet Beatrix von Oldenburg und ich zu Vorsitzenden unserer Verbände gewählt worden sind - aber das hatte andere Gründe. Es wird Ihnen jedoch auffallen, daß Oldenburg natürlich nicht in der ehemaligen DDR liegt. Herzogin Beatrix setzt sich also nicht für Eigeninteressen ein, sondern engagiert sich als idealistische Staatsbürgerin und Juristin für unseren Rechtsstaat.

Stichwort Rechtsstaat - Damit sind wir beim zweiten "populären Irrtum".

Schwerin: Nämlich, daß es beim Thema Enteignungen - genauer: Konfiskationen - in erster Linie um die Enteignungen ginge. Tatsächlich geht es um etwas, was alle Bürger angeht: um den freiheitlich-demokratischen Rechtsstaat. Die Arbeitsgemeinschaft Recht und Eigentum (ARE) war von Anfang an als Zusammenschluß so etwas wie eine Bürgerrechtsbewegung. Schon lange unterstützen uns nicht mehr nur Betroffene, sondern auch immer mehr Empörte und engagierte "Rechtsstaatler".

Der Staatsrechtler Hans-Herbert von Arnim spricht in einem Beitrag für diese Zeitung (siehe Seite 13) von einem "menschenverachtenden Unrecht", das durch "trickreiche Manipulationen" der Politik nach 1990 zu "verfassungswidrigem Verfassungsrecht" wurde.

Schwerin: Eben! Die oberflächliche Annahme, das Problem ginge nur Betroffene etwas an, träfe nur dann zu, wenn man unter Enteignungsunrecht lediglich das der Sowjets bzw. der SED verstünde. Wir kämpfen heute aber in erster Linie gegen das Unrecht, das im wiedervereinigten Deutschland begangen wurde! Und zu dem das SBZ/DDR-Unrecht lediglich die Vorgeschichte darstellt.

Konkret sprechen Sie nicht vom Unrecht der Enteignung vor 1990, sondern von dem Unrecht der Verweigerung einer Rückgabe bzw. angemessenen Wiedergutmachung nach 1990.

Schwerin: Das geht noch viel weiter! Das Unrecht besteht nicht nur in der Nicht-Wiedergutmachung - allein das ist für einen Rechtsstaat ein unerhörter Skandal -, sondern auch in der ständigen Ausweitung des Unrechts!

Eine ziemlich weitgehende Behauptung. Haben Sie Beispiele dafür?

Schwerin: Da gibt es etliche. Nehmen Sie etwa das relativ bekannte Beispiel der Mauergrundstücke (JF 41/04): Selbst die DDR hatte sich gesetzlich festgelegt, die für die Errichtung der Grenzanlagen enteigneten Grundstücke "später" zurückzugeben - wohl nach dem Sieg des Sozialismus. Jetzt - nach dem Sieg der Demokratie - heißt es: April, April! Das Unrecht der DDR wird also von dem der BRD noch überholt, die Wegnahme bleibt! Oder nehmen Sie denn Fall des DDR-"Entschädigungserfüllungsgesetzes": Auch in der DDR hatte der Bürger bei gewissen Enteignungen einen Anspruch auf Entschädigung. Nur ist der mitunter einfach nicht erfüllt worden. Und was ist in der Bundesrepublik mit diesen Fällen passiert? Wenn Sie annehmen, die Betroffenen seien hier endlich zu ihrem Recht gekommen, muß ich Ihnen die Illusion nehmen. - Aber es kommt noch schlimmer! Das Argument des Bundesverwaltungsgerichts, mit dem die Rückgabe - oder angemessene Entschädigung - verweigert wurde, war, daß es sich bei dem - schon nach DDR-Gesetzen! - vorliegenden Rechtsbruch um eine "gelebte Rechtswirklichkeit" handle. Und also belasse man dies nun so. Eine irre Konstruktion! Oder können Sie sich vorstellen, hätte man es gewagt, die Entschädigung enteigneter Juden nach 1945 mit Verweis auf die "gelebte Rechtswirklichkeit" der NS-Zeit abzulehnen?

Wohl kaum.

Schwerin: Oder denken Sie an die Streichung der "Ersatzflächenregelung" für weggenommene Grundstücke: Eine im Einigungsvertrag von 1990 festgelegte Ausgleichs-und Wiedergutmachungsverpflichtung für Enteignete, deren Grundstücke aus verschiedenen Gründen nicht zurückgegeben werden können. Als erste Urteile die Rechte der Betroffenen in dieser Sache bestätigten, wurde die Bestimmung kurzerhand vom Bundestag gestrichen! So einfach ist das!

"Das geht alle Bürger an: Verlotterung des Rechtsstaats!"

Im Fokus der ARE-Aktivitäten steht allerdings vor allem das Unrecht der "klassischen" Enteignungen 1945 bis 1949.

Schwerin: Damals wurden in der Sowjetischen Besatzungszone (SBZ) über 10.000 Grundbesitzer mit ihren Familien, aber darüber hinaus auch Abertausende Fabrikanten und Mittelständler aller Art enteignet, dabei pauschal oder mit Strafvorwurf als "Nazis" und "Kriegsverbrecher" verfolgt. Sie wurden ihrer gesamten Habe beraubt, zum Teil sogar ermordet, verschleppt oder lange Zeit in Speziallagern inhaftiert. Ihr Eigentum wurde ihnen nach 1990 nicht zurückgegeben bzw. auch nicht angemessen entschädigt, mit der Begründung, die UdSSR habe einen Verzicht auf Restitution als Bedingung für ihre Zustimmung zur deutschen Einheit gefordert. Die Allianz für den Rechtsstaat um Beatrix von Oldenburg (siehe Interview unten) gelang es, als Zeugen für dieses blamable Schauspiel keinen Geringeren als Michael Gorbatschow persönlich zu präsentieren, der die Behauptung, es hätte eine solche Forderung je gegeben, als "absurd" bezeichnete. Die Folge der Entlarvungen? Keine! Politik und Bundesverfassungsgericht blieben trotz Wegfalls ihres Hauptarguments bei ihrer "Rechtsprechung". - Sie sehen also: Es geht längst nicht mehr nur um Eigentum und Entschädigung, sondern um Rechtsstaat und Gesetzestreue.

Der ehemalige Bundesjustizminister Edzard Schmidt-Jortzig (FDP) nannte im Interview mit dieser Zeitung (JF 28/05) als Grund dafür, daß bisher alle Gerichtsentscheidungen gegen die Enteigneten gefallen sind, den "politischen Wind" und sprach von "Argumenten in den Gerichtsurteilen, die juristisch nicht überzeugend sind, sondern ganz offensichtlich herhalten mußten, um das gewünschte Ergebnis zu erzielen".

Schwerin: Das ist doch deutlich genug! Welchen Beweises bedarf es noch, um klarzumachen, daß es hier um den Rechtsstaat an sich geht? Wer meint, das Ganze habe mit ihm nur am Rande zu tun, den erinnere ich an das, was Martin Niemöller mit seinem berühmten Diktum deutlich machen wollte: "Als sie die Juden holten, habe ich nicht protestiert; ich war ja kein Jude ... Als sie schließlich mich holten, gab es keinen mehr, der hätte protestierten können."

Allerdings ist mit dieser Beugung des Rechtsstaates das ganze Ausmaß des Problems immer noch nicht vollständig beschrieben.

Schwerin: Nein, denn diese Rechtsbeugung hat inzwischen eine erhebliche "Verlotterung" der rechtsstaatlichen Sitten zur Folge.

Sie meinen, der Sündenfall führt zum Sittenverfall?

Schwerin: Das kann man eindeutig beobachten. Der Prozeß folgt der berühmten "Broken windows"-Erfahrung: Wenn sie an einem Gebäude eine zerbrochen Fensterscheibe dulden oder in einem Straßenzug ein Graffiti, dann ist in absehbarer Zeit das ganze Gebäude "entglast", die ganze Straße beschmiert. Denn nachdem Politiker, Richter, Amtspersonen einmal die Erfahrung gemacht haben, daß man "so etwas" ungestraft machen kann, führt das erstens zu immer weiteren Rechtsbeugungen, zweitens zu immer dreisterem Vorgehen, drittens zu immer weniger Unrechtsbewußtsein. Ein anderes Beispiel ist, "ungeliebte" Gesetze möglichst "klammheimlich" zu verabschieden, damit diejenigen, die davon betroffen sind und Rechte ableiten können, möglichst nichts oder zu spät davon erfahren. Als wir dieses Verhalten einmal angesprochen haben, wurde - von SPD-Vizefraktionschef im Deutschen Bundestag Hans-Joachim Hacker persönlich - offen eingestanden, daß in der Tat genau das bezweckt war! Bizarr ist zum Beispiel auch die Formulierung des Bundesverwaltungsgerichts, von einem gewissen Richter Driehaus (siehe Seite 12) stammend: "Faktische Besitzentziehung führt zum Verlust des Eigentums." Na, da könnte sich jeder Kunsträuber ja zurücklehnen! Der Mechanismus ist klar: Um das Unrecht zu decken, muß es beständig erweitert werden. Das ist eine Abwärtsspirale, die den Rechtsstaat immer weiter ruiniert. Denn von der schon genannten "gelebten Rechtswirklichkeit" zu einer "gefühlten Urteilsfindung" ist es nicht mehr weit!

"Dagegen ist Watergate wie Falschparken"

2005 sind Sie vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) gescheitert. Wie soll es nun weitergehen?

Schwerin: Indem die Große Kammer des EGMR mehrheitlich zweimal die europäische Menschenrechts-Konvention quasi "über Bord gehen" ließ, hat sie ihre Rolle als Organ der übernationalen Rechtspflege in Frage gestellt und heftige interne Konflikte genährt, denn schließlich gab es sehr gravierende - also abweichende - Sondervoten der angeseheneren Mitglieder der Kammer. Der EGMR hat das Thema - auf wenig professionelle Weise - ins Feld der deutschen Politik und Judikatur zurückverwiesen. Nichts hindert also die BRD, die überfällige Kurskorrektur nun auf den Weg zu bringen. Von rechtskräftiger "Endstation" kann keine Rede sein, auch wenn politisch Verantwortliche gern einen Schlußstrich herbeizureden versuchen und auf die Ignoranz der Öffentlichkeit setzen. Abgesehen davon, daß mehrere Verfahren in Straßburg noch laufen, ist gerade auf deutschrechtlicher Seite eine bemerkenswerte Wiederaufnahme über die Schiene der - früher verkannten - strafrechtlichen Rehabilitierung gemacht worden. Und politisch geht die ARE nun verstärkt in die Offensive, besonders in den jungen Ländern, um zu einer Trendwende zu gelangen, für die es in der Öffentlichkeit erste Signale gibt. Wenn wir eines Tages zum Erfolg kommen, bleibt allerdings die Aufgabe der nachhaltigen Aufarbeitung dieses skandalösen Kapitels bundesdeutscher (Un-)Rechtsgeschichte. Eines Skandals, gegen den sich etwa das US-Watergate ausnimmt wie Falschparken.

 

Manfred Graf von Schwerin ist Bundesvorsitzender der Aktionsgemeinschaft Recht und Eigentum (ARE). Geboren 1931 in Stettin, studierte der spätere Agrar- und Werbekaufmann Jura.

ARE und Allianz für den Rechtsstaat: Die Aktionsgemeinschaft Recht und Eigentum/Allianz für Rechtsstaatlichkeit und Entwicklung (ARE) ist ein Zusammenschluß von 14 Verbänden (siehe Seiten 6 und 7), die sich für eine rechtsstaatliche Behandlung von Opfern kommunistischer Gewalt und Zwangsenteignungen einsetzen. Gegründet 1996, repräsentiert die ARE etwa 6.000 Mitglieder. Im ebenfalls 1996 gegründeten "Göttinger Kreis - Allianz (früher: Studenten) für den Rechtsstaat" engagieren sich junge Juristen gegen das Enteignungs-unrecht. Der Kreis fungiert als Plattform und erreicht etwa 30.000 Unterstützer.

Kontakt: ARE, Im Brühl 9, 34582 Borken (Hessen), Telefon: 0 56 82 / 73 08 12, im Internet: www.are-org.de

Allianz für den Rechtsstaat, Fritschestraße 29a, 10585 Berlin, Telefon: 030 / 34 70 62 65, im Internet: www.webkreis.org

Foto: Demonstrierende Enteignungsopfer in Berlin: "Es geht inzwischen um den Rechtsstaat an sich. Denn um das Unrecht zu decken, muß es beständig erweitert werden"

 

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