© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 17/06 21. April 2006

Eine Generation in der Warteschleife
Bildung: Auf immer mehr Universitätsabsolventen wartet nach dem Studium statt einer Festanstellung nur ein Praktikumsplatz
Ronald Gläser

Erst Praktikum, dann Job? April, April!" steht auf dem einen Transparent, "Praktikum für ein Jahr? Geht's noch?" auf einem anderen. Knapp dreißig Hochschulabsolventen haben sich vor dem Brandenburger Tor eingefunden, um auf ihre prekäre Situation hinzuweisen.

Sie nennen sich - in Anlehnung an die "Generation X" - "Generation P". P steht für Praktikum. Denn die Zeiten, als ein Universitätsabsolvent binnen weniger Wochen nach seinem Abschluß mit einem Einstieg in den Arbeitsmarkt rechnen durfte, sind vorbei. Die Generation P fühlt sich ausgebeutet. Eine Endzwanzigerin mit einem Plakat beschwert sich lauthals: "Ich bin schon seit einem halben Jahr fertig und habe noch immer keinen Job. Statt dessen soll ich umsonst Praktika machen." Die Demonstranten tragen weiße Masken, damit ihre derzeitigen Arbeitgeber sie nicht erkennen können.

"Das sollte es nur geben, wenn man auch eine feste Zusage auf einen Job nach dem Praktikum erhält. Sonst werden wir ausgebeutet", wettert die Ex-Studentin. Sie nimmt ihre Maske ab, um besser Luft holen zu können - so erbost ist sie. Fünfzig Bewerbungen und keine Antwort, jammert sie weiter.

Ihre Freundin daneben - auch sie ist Mitte Zwanzig - hat sich ein Plakat um den Hals gebunden. Darauf steht: "Küß mich, ich bin eine verwunschene Nachwuchskraft." Dazwischen klebt ein selbstgemalter Frosch. Sie trägt zusätzlich zu der Maske eine Mütze, auf der "Praktikantin" steht. "Ich bin Betriebswirtin", sagt die junge Frau. "Wir haben keine Chance eine feste Stelle zu bekommen", beklagt sie sich.

Die Jobkrise hat längst den Mittelstand erreicht

Eine der Anführerinnen greift zum Lautsprecher. "Wir machen ein Spiel. Ein paar Praktikanten stellen sich hier auf. Die, die Geld bekommen haben beim Plus, die die unentgeltlich gearbeitet haben, beim Minus." So geschieht es. Alle stehen beim Transparent mit dem "Minus".

Dann werden nach einem komplizierten System Punkte verteilt für diejenigen, die Überstunden gemacht haben, die nur kopieren und Kaffee kochen durften, die über drei Monate als Praktikant schuften durften. Am Ende gewinnt eine junge Frau, die seit ihrem Examen insgesamt sieben unbezahlte Praktika bei Firmen absolviert hat. Sie bekommt ein T-Shirt mit der Aufschrift "Senior-Praktikant".

Die Jobkrise hat längst den Mittelstand erreicht. Und sie trifft aufgrund des geltenden Arbeitsrechts weniger die, die bereits einen Job haben. Sie trifft die, die in den Arbeitsmarkt nachdrängen, die Jungen, selbst wenn sie qualifiziert sind.

Für einen Hochschulabsolventen des Geburtsjahrganges 1975 oder 1980 ist Normalität, was Ältere für den Ausnahmezustand halten: Zeitverträge; Halbtagskräfte, denen ein Achtstundentag abverlangt wird; Honorarverträge; Entlohnung weit unter Tarif; und eben unbezahlte Praktika. Dazu kommt der Trend, daß die eigenen Fähigkeiten an Privatschulen aufzubessern sind - gegen Bares, versteht sich.

In Berlin demonstriert an diesem Tag nur eine Handvoll. Das Herz der Bewegung sitzt in Frankreich. Die Probleme der Dreißigjährigen sind die gleichen, aber dort ist die "Generation Précaire" mit ihren weißen Masken eine Massenbewegung. Auch hier- auf dem Pariser Platz - haben sich einige Franzosen eingefunden, die ihre deutschen Altersgenossen unterstützen.

Der 34jährige Laurent Joachim hat in Saarbrücken und Straßburg Germanistik studiert. Er hat alle möglichen Tätigkeiten ausgeübt, darunter einige, für die er überqualifiziert war: Übersetzer, Bankkaufmann, Exportsachbearbeiter, Nachtportier, Zeitungsmitarbeiter, Fabrikarbeiter, Verkäufer, Bauarbeiter. An der Humboldt-Universität promoviert er seit 2004. Es gibt Leute, die sagen über Joachim, er promoviere so vor sich hin.

Jetzt sitzt er im Meta, einer Kneipe am Prenzlauer Berg. Der Ortsverein Helmholtzplatz der Berliner SPD tagt. Für eine Parteiveranstaltung ist das Durchschnittsalter der Teilnehmer niedrig, keiner ist über 50. Aber es sind nur 16 gekommen - darunter drei Frauen. Die alten Genossen interessiert das heutige Thema - "Praktikum - Ausbeutung oder Ausbildung?"- nicht so sehr, obwohl es ein richtiges SPD-Thema ist. Schließlich war es Andrea Nahles, die frühere Juso-Vorsitzende, die als eine der ersten den Begriff "Generation Praktikum" verwandt hat.

Die Vorsitzende des Ortsvereins heißt Claudia Tietje. Hätte die 33jährige nicht einen Sitz im Berliner Abgeordnetenhaus, müßte sie sich wie viele ihrer Altersgenossen auch auf dem Arbeitsmarkt umsehen. Ihre "Arbeitsbiographie": Schule, danach Studium der Politikwissenschaften. Mit 30 hat sie schließlich ein Fernstudium begonnen. Vorher war sie Freie Mitarbeiterin beim Nachrichtensender n-tv, bis der Sender aus Berlin weggezogen ist. Ansonsten hat sie Parteijobs absolviert.

Tietje sagt, "wir müssen Druck ausüben auf unsere Partei". Sie fordert ein neues Gesetz. Ihr Antrag für den nächsten Parteitag wird mit folgenden Worten eingeleitet: "Die SPD stellt sich der weitverbreiteten Ausbeutung von Praktikanten und der Zweckentfremdung von Praktikantenbeschäftigung zum Ersatz regulärer, sozialversicherungspflichtiger Arbeitsverhältnisse entgegen."

Arbeitgeber sollen verpflichtet werden, die "Ziele und Bedingungen des Praktikums" vorher schriftlich festzulegen. Praktika sollen zudem zeitlich begrenzt werden. Praktika sollen nur zwei Monate dauern dürfen, lautet die Forderung.

Am deutlichsten wird das Papier beim letzten Punkt: Die Mindesthöhe der Entlohnung, die zu zahlen Arbeitgeber verpflichtet werden soll, "ist gestaffelt nach Ausbildungsstand und Tätigkeit (Student/Auszubildender oder Hochschulabsolvent/ausgebildete Fachkraft)". Bei Universitätsabsolventen soll zudem die Sozialversicherungspflicht gewährleistet werden.

Bis zu 900.000 Billig-Praktikanten

Laurent Joachim, der germanophile Franzose, begründet den Antrag: "Ich gehe auf Partys und höre immer das gleiche: Eine ganze Generation hat studiert, hat gute Ergebnisse und findet trotzdem keinen Einstieg in das Berufsleben." Zwischen Joachim und Tietje sitzt Christian Kühbauch, der zuständige DGB-Jugendsekretär. Tietje fragt ihn, wie viele Personen betroffen sind. Kühbauch zitiert eine Studie, in der die Hälfte der befragten Praktikanten geantwortet hat, sie habe reguläre Arbeit verrichtet.

Acht- bis neunhunderttausend Billig-Praktikanten gibt es derzeit in Deutschland geben, mutmaßt Kühbauch. Der DGB-Mann nennt einige Beispiele. Darunter das eines Verlages, der kaum Angestellte habe, dafür aber 15 Praktikanten beschäftige, die mit 50 Euro im Monat abgespeist würden.

Tietje bringt es auf den Punkt: "Wenn ich mir meinen Freundeskreis ansehe, dann frage ich mich 'Wer hat denn überhaupt noch einen festen Job?'. Als junge Frau mit einem dicken Bauch kannste sowieso gleich gehen", berlinert sie.

Das Verhalten der Politiker, so Kühbauch, sei skandalös. Dabei denkt er wohl vor allem an die eigenen Genossen, obwohl er sich auch als SPDler zu erkennen gibt. "Die antworten mit einer Die-sind-ja-selbst-schuld-Haltung", beklagt er sich über mangelndes Verständnis von seiten der Altvorderen.

Glückskinder einer traumverlorenen Republik

Warum machen Uni-Absolventen kostenlose Praktika? Sind sie wirklich selbst schuld, fragt Tietje. Florian Lamp, ein anderer Praktikant, antwortet, er habe Angst vor der berüchtigten Lücke im Lebenslauf gehabt. Kühbauch: Schuld sind auch "15 Jahre neoliberales Klima", was sonst. "Immer wenn wir von der Gewerkschaft Textbausteine für Gesetze geliefert haben, kamen die Anrufe von der Arbeitgeberseite", berichtet er. Dann war von "unseren Gesetzesvorschlägen" nichts mehr übrig.

Ein Universitäts-Dozent, einer der ältesten Teilnehmer der Runde, pflichtet ihm bei, was das Klima angeht. "Wir merken das auch an den Universitäten", berichtet er über die augenblickliche Studentengeneration. "Die wollen nur noch ihre Scheine machen und keine kritischen Fragen mehr stellen. Wir haben damals ordentlich Bambule gemacht", kritisiert er. Das vermißt er heute und zitiert Karl Marx, dessen Thesen sich bewahrheiteten. "Alle künftigen Generationen werden ausgebeutet, wenn wir jetzt den Kampf verlieren", droht der Aktivist.

Szenewechsel: Am John-F.-Kennedy-Institut der Freien Universität Berlin haben sich Studienanfänger in einem Hörsaal versammelt. Absolventen sprechen über ihren Einstieg in den Beruf. Unter den Anwesenden sind auch ehemalige Studenten der Nordamerika-Studien, die bereits in den achtziger und neunziger Jahren studiert haben. Die Ältesten haben feste Jobs, einer beim Land Brandenburg, eine beim Deutschlandfunk. Sie reden nicht über ihr Gehalt. Eine Absolventin aus den neunziger Jahren berichtet, sie verdiene als freie Übersetzerin "maximal" 30.000 Euro pro Jahr. "Eher weniger", seufzt sie. Die drei Absolventen aus den Jahren 2002 und 2004 hatten es am schwersten. Alle haben im Schnitt zwei Jahre gesucht, bis sie eine feste Anstellung gefunden haben. Zwei Jahre, in denen sie als Erwachsene auf die Unterstützung der Eltern angewiesen waren.

Eine hat bei einem befristeten Projekt eine Halbtagsstelle (15.000 Euro), ein früherer Kommilitone von ihr verdient 30.000 im Jahr. Nur eine der Jüngsten hat mit 44.000 Euro einen Spitzenjob: Sie arbeitet für eine New Yorker Wirtschaftskanzlei. Diejenigen Hochschulabsolventen, die bei Lidl die Regale einräumen, sind nicht gekommen. Was sollen sie auch erzählen?

Die Dreißigjährigen waren die Glückskinder einer traumverlorenen Republik. Die nach 1970 Geborenen wuchsen auf in der perfekten Welt. Für den deutschen Mittelstand schien der Weg vorprogrammiert. Die bundesrepublikanische Grundversorgung sah so aus: kostenlose Schulausbildung (der Pisa-Schock stand dem Land noch bevor), kostenloses Studium an staatlicher Universität, sichere Jobs trotz Millionen Langzeitarbeitsloser. Die Arbeitslosigkeit, das war noch ein Problem für die Zuschauer des "Unterschichtenfernsehens". Arbeitslos waren die Leute mit Tätowierungen, die sich mit Handy-Klingeltönen bestens auskennen, aber nicht einmal einen einfachen Zeitungsartikel korrekt lesen und wiedergeben können.

Aber jetzt werden sie alle, auch die Fleißigen, von den Alten und den Jungen in die Mangel genommen. Mit jedem Jahrgang wird es ein wenig schlimmer: Sie sollen die Renten für die Alten zahlen, vor allem für die geburtenstarken Nachkriegsjahrgänge. Obwohl sie so wenige sind. Und sie sollen gleichzeitig mindestens 2,1 Kinder pro Frau in die Welt setzen, damit das Land nicht gänzlich entvölkert wird. "Sandwich-Generation" werden sie deshalb genannt.

Viele setzen sich ins Ausland ab

Viele setzen sich ab. Mediziner, die schuften und sich unterbezahlt fühlen, gehen nach Großbritannien, Australien, Amerika. Während ihres Studiums war Englisch schon fast Unterrichtsprache. "Visit us in London", stand auf einem Plakat einer jungen Ärztin bei der großen Ärztedemo vor einigen Wochen. Andere gehen nach Österreich oder in die Schweiz. Wer sehen will, wie es weitergeht, der muß sich nur die Bevölkerungsstatistik in Sachsen-Anhalt ansehen. Alles, was laufen und einigermaßen denken kann, geht weg. Die Bevölkerungspyramide ist bald buchstäblich auf den Kopf gestellt. In wenigen Jahrzehnten wird es in ganz Deutschland so aussehen.

Zurück auf der Demonstration der "Generation P" am Brandenburger Tor, die zeitgleich mit ähnlichen Protestveranstaltungen in Wien, Paris und Brüssel stattfindet. Die junge Absolventin mit dem Frosch-Plakat wird von einem älteren Herrn angesprochen. "Wat heißt'n dit?" fragt er und zeigt auf das Plakat. "Sie müssen mich wachküssen. Ich bin eine Nachwuchskraft", erläutert die Demonstrantin freundlich. "Gloob ick nich", sagt der Mann und geht weiter.

Foto: Maskierter Protest von Dauer-Praktikanten in Berlin: Die "Generation P" fühlt sich ausgebeutet


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