© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 17/06 21. April 2006

Pankraz,
Stadt Auckland und die fremde Lebensqualität

Münchner fühlen sich tief getroffen (sofern sie davon Kenntnis genommen haben): Düsseldorf und Frankfurt am Main rangieren in puncto Lebensqualität neuerdings vor der kuscheligen Isar-Metropole, zwar nur knapp, aber immerhin. Die internationale Agentur Mercer Human Resource Consulting, die sich seit Jahren für die Feststellung von "Lebensqualität" zuständig fühlt, hat soeben ihre aktuelle Liste der einschlägigen top ten veröffentlicht. Sie lautet in der Reihenfolge von eins bis zehn: "Zürich, Genf, Wien, Vancouver, Auckland, Düsseldorf, Frankfurt am Main, München, Bern, Sydney".

Überzeugte Mitteleuropäer können ein Gefühl der Genugtuung nicht unterdrücken. Ganze sieben der top ten liegen in ihrer Region, sind von ihrer Kultur und ihrem Lebensstil geprägt. Wer hätte das gedacht! Doch was heißt denn überhaupt "Lebensqualität"? Äußere Schönheit kann es nach den Begriffen von Mercer HRC nicht sein, sonst wären weder Frankfurt noch Auckland berücksichtigt worden. Und auch die Pracht der Museen und der in ihnen gehegten Schätze ist wohl nur am Rand bedacht worden; keine der berühmten italienischen Schatzkammern ist aufgeführt, weder Rom noch Florenz noch Neapel.

Schöne Umgebung, angenehmes Klima, bequeme Verkehrsverhältnisse, vertretbare Preise - dergleichen gibt es (auch heute noch) an vielen Orten, dazu bräuchte man nicht extra ein "Ranking". Worauf es offenbar ankommt, ist die optimale Mischung von alledem. Wer unter die top ten will, der darf weder zu groß noch zu klein sein, weder zu heiß noch zu kalt, weder zu bescheiden noch zu protzig. Das alte Philosophenideal des rechten Maßes ist gefragt, die Ausgewogenheit, die daraus resultierende Gelassenheit des Umgangs miteinander.

Vor allem soll es nach Meinung derer, die über Lebensqualität befinden, keine zerreißenden sozialen Spannungen oder gar scheußliche Deformationen dessen geben, was im emphatischen Sinne "Stadt" heißt oder einst hieß. Keine banlieues oder "Problemviertel" also, keine Ghettos, keine sich aggressiv abgrenzenden Zuwanderer, keine verbrecherischen Banden, die ganze Viertel terrorisieren. Der sprichwörtliche Bürger soll sicher sein, daß er nicht gleich zusammengeschlagen oder gar umgelegt wird, wenn er es einmal wagt, über die Straße zu gehen.

Die Sicherheit und die bürgerliche Gediegenheit rangieren in der neuen Liste der lebensqualitätlichen top ten eindeutig vor den sogenannten Sinnen- und Geistesreizen und vor dem, was man üblicherweise Unterhaltung nennt. Im "Medienzeitalter", wo noch in der lausigsten Hütte ein Fernseher steht und man per Internet jeden Katalogeintrag problemlos abrufen kann, spielt die Fülle der Möglichkeiten, welche früher exklusiv die Metropolen boten, keine Rolle mehr. Heute kann sich faktisch jeder selbstverwirklichen, ob in Paris oder Hinterhupfingen.

Trotzdem gibt es einige Merkwürdigkeiten. Pankraz hat Bekannte, gute junge Leute, die einst der Lebensqualität wegen von Berlin nach Auckland auswanderten und dort auch einen guten Job fanden; nach gut zwei Jahren kehrten sie nach Berlin zurück, weil es ihnen, wie sie sagten, in Auckland "zu langweilig" war. Sie konnten in Auckland genausogut "Sex and the City" sehen wie in Berlin, und die Gelegenheiten zum Surfen waren in Auckland sogar besser als in Berlin, schlechthin ideal geradezu, fast so gut wie in dem Gedicht von Tucholsky: "nach vorn raus die Friedrichstraße, nach hinten raus der Ostseestrand". Dennoch war es ihnen in Auckland zu langweilig.

Könnte es sein, daß zur wirklichen Lebensqualität ein beachtliches Quantum Unbequemlichkeit und Ungemütlichkeit dazugehört? Daß ein gewisser Menschenschlag die Unbequemlichkeit und Ungemütlichkeit, das Risiko und das Nichtaufgehen der tagtäglichen Lebensbilanz geradezu braucht, um auch nur schlicht überleben zu können? Nietzsche hat diese Frage schon vor über hundert Jahren bejaht und geistreich analysiert, und er kam zu dem Schluß, daß es wahrhaftig nicht der schlechteste Menschenschlag ist, der an einem allzu glatten Leben regelrecht leidet.

Natürlich hat auch hier die Sache ihr Maß. Totales Tohuwabohu möchte niemand, kann niemand auf Dauer aushalten. Wenn die überkommene und gewohnte Lebenswelt tagtäglich bis zum Exzeß herausgefordert, verhöhnt und zur Disposition gestellt wird, wendet sich gerade der Anspruchsvolle bald voller Ekel und Verachtung ab und sucht sich neue Gefilde. Glücklich, wer dazu in der Lage ist. Glücklich, wer die Mittel und das Talent dazu hat, sich einigermaßen schnell in neue, fremde Verhältnisse hineinzufinden und den spezifischen Rhythmus dieser Verhältnisse lustvoll zu erspüren und schließlich auch zu genießen.

Andererseits aber wirkt ein Typ eher matt und weckt wenig Vertrauen, der ausschließlich nach Glätte, Bequemlichkeit und Gemütlichkeit sucht, das für Lebensqualität hält und schon bei nur mäßigem Gegenwind die Segel refft und den Kurs ändert. Mit so jemandem lassen sich selten Nägel mit Köpfen machen.

Ähnliches gilt für Städte, die Lebensqualität beanspruchen und dafür dekoriert werden. Es gibt unter ihnen welche, die es ihren Bürgern gewissermaßen allzu gemütlich machen, die etwa real vorhandene Schwierigkeiten allzu gern durch Dialekt und voreiliges "Mir san mir!" und aufdringliche Beschwörung des Ortsgeists überspielen.

Wenn sich solche Städte beim Wettbewerb um die Lebensqualität dann plötzlich abgehängt sehen, wenn München trotz seiner Schönheit plötzlich hinter Frankfurt rangiert und Wien trotz seiner Pracht hinter Zürich, braucht man sich nicht zu wundern. Es fehlt das Gran Fremde und Ausgesetztheit, das Lebensqualität letztlich erst wahrnehmbar macht. Für einen Platz unter den top ten reicht es aber allemal.


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