© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 17/06 21. April 2006

Mythos Antifaschismus
von Klaus Motschmann

Als der chinesische Philosoph Konfuzius vor 2.500 Jahren von seinem Kaiser gefragt wurde, wie er sein zerrüttetes Reich wieder ordnen könne, antwortete er lapidar: "Dulde keine Unordnung in der Sprache." Er hat damit einen Kernsatz aller politischen Philosophie formuliert.

Nach dreißig Jahren Kulturrevolution, in der die Zersetzung der "Sprache der Herrschenden" eine maßgebende Rolle gespielt hat, leben wir in einem Zustand der sprichwörtlichen babylonischen Sprachverwirrung mit allen Konsequenzen für unsere politische und gesellschaftliche Ordnung. Wichtige Begriffe können nicht mehr verbindlich definiert werden: Demokratie, Sozialismus, Kommunismus, Freiheit, Gerechtigkeit u. a. m.. Nur wenige Begriffe dürfen allgemeiner Zustimmung bzw. Ablehnung sicher sein: Antifaschismus und Faschismus/Nationalsozialismus, aber dies auch nur, weil sie ebenfalls nicht exakt und verbindlich definiert werden können.

Faschismus und Nationalsozialismus werden nicht nur im allgemeinen Sprachgebrauch, sondern auch in Publizistik und Wissenschaft weitgehend synonym gebraucht und Antifaschismus demzufolge als Bezeichnung von Gegenpositionen. Nach dem Selbstverständnis der Antifa-Ideologen bedeutet dies aber eine grobe Verkürzung des Bedeutungsinhalts. Die Gegenposition, das "Anti", bezieht sich nicht auf den Faschismus/Nationalsozialismus, sondern auf die bürgerlich-kapitalistische Gesellschaftsordnung, die den Faschismus/Nationalsozialismus in Krisenzeiten zur Verteidigung ihrer Herrschaft hervorbringt. Es sind also keine originären eigenständigen politischen Bewegungen, sondern nach der Definition des langjährigen Komintern -Vorsitzenden Georgi Dimitroff "die offene terroristische Diktatur der reaktionärsten, am meisten chauvinistischen, am meisten imperialistischsten Elemente des Finanzkapitals. Sie waren (und sind noch immer) die entscheidenden Feinde des Proletariats, die Faschisten/Nationalsozialisten sind lediglich ihr Kampfinstrument."

Dazu werden nicht nur die im allgemeinen öffentlichen Bewußtsein typischen Repräsentanten der Großindustrie und Banken, der Interessenverbände, der Presse und der Parteien gerechnet, sondern auch und vor allem die Sozialdemokratie, die nach kommunistischen Urteil durch die Bewilligung der Kriegskredite im Jahr 1914 und durch die Niederschlagung der Novemberrevolution im Jahr 1918/19 das Proletariat verraten habe. "Die Sozialdemokratie kann daher im Kampf gegen den Faschismus niemals eine zuverlässige Bundesgenossin des gegen den Faschismus kämpfenden Proletariats sein."

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Die Komintern folgte Stalins These vom "Sozialfaschismus", nach der die Sozialdemokratie "objektiv der gemäßigte Flügel des Faschismus" sei. Zumindest bis 1933 galt sie den Kommunisten als gefährlicherer Feind.

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Die Komintern folgte mit dieser Resolution der von Stalin entwickelten These vom "Sozialfaschismus" aus dem Jahr 1924, nach der die Sozialdemokratie und der Faschismus "keine Antipoden, sondern Zwillingsbrüder" seien: Die Sozialdemokratie ist "objektiv der gemäßigte Flügel des Faschismus. Der Faschismus ist der nicht ausgestaltete Block dieser beiden grundlegenden Organisationen, der unter den Verhältnissen der Nachkriegskrise des Imperialismus entstanden und auf den Kampf gegen die proletarische Revolution berechnet ist."

Weil die Nachkriegskrise des Imperialismus nicht allein Italien, sondern viele Länder in Europa erfaßt hatte, darf der Faschismus nicht als die politische Bewegung eines einzelnen Landes (z.B. Italiens oder Deutschlands) verstanden werden. Es soll nicht übersehen werden, daß der Faschismus je nach dem Stand der kapitalistischen Entwicklung unterschiedliche Charakterzüge angenommen hatte, z.B. in Polen, Spanien, Portugal, Österreich, Ungarn, Jugoslawien und anderen Ländern mehr. Diese Unterschiede dürfen aber nicht über den gemeinsamen Wesenszug des Faschismus hinwegtäuschen. Dazu gehört insbesondere die entschiedene Abwehr der Kommunismus.

Die Tatsache, daß die Sozialdemokratie in vielen Ländern, vor allem in Deutschland, nach dem Ersten Weltkrieg eine maßgebende Rolle bei der demokratischen Neuordnung gespielt hat, wurde von der Komintern bzw. von der KPD als "demokratische Tarnung" erklärt, um die spezielle Funktion der Täuschung des Volkes im allgemeinen und des Proletariats im besonderen erfüllen zu können. Insofern war die Sozialdemokratie für die Kommunisten - zumindest bis 1933 - der gefährlichere Feind als der Faschismus und mußte immer wieder als solcher "entlarvt" werden.

Wegen der Niederschlagung kommunistischer Aufstände in Deutschland im Krisenjahr 1923 sprach die KPD bereits zu diesem Zeitpunkt von der Errichtung einer "faschistischen Diktatur" in Deutschland, die durch das Verhalten der SPD-Führung begünstigt worden sei. Deshalb gäbe es mit diesen Führern der SPD keine Verständigung, sondern nur einen Kampf auf "Leben und Tod" und "bis aufs Messer". Der Kampf der Kommunisten richtete sich deshalb konsequenterweise in erster Linie gegen die Sozialdemokratie, weil sie durch ihre verantwortlichen Positionen im Staat über die Machtmittel verfügte, das Proletariat zu bekämpfen. Noch im Herbst 1932 verteidigte die Komintern diese Generallinie der KPD in einer Resolution: "Nur wenn der Hauptschlag gegen die Sozialdemokratie - diese Hauptstütze der Bourgeoisie - gerichtet wird, kann man den Hauptklassenfeind des Proletariats, die Bourgeoisie schlagen und zerschlagen."

Vor dem Hintergrund dieser Einschätzung der politischen Verhältnisse in Deutschland ist es verständlich, daß für die Komintern bzw. die kommunistische Partei der Faschismus lange vor der Machtübernahme Hitlers an der Macht war. In diesem Sinne äußerte Ernst Thälmann, der Vorsitzende der KPD, schon im Jahr 1930, "daß der Faschismus nicht erst beginnt, wenn Hitler kommt", sondern daß er längst begonnen habe.

Die Komintern bestätigte diese Aussage im September 1932, obwohl sich durch spektakuläre Wahlsiege der NSDAP bedrohliche Verwerfungen in der politischen Landschaft Deutschlands anzeigten. So zog die NSDAP im August 1932 mit 230 von 608 Abgeordneten in den neu gewählten Reichstag ein und bildete damit die stärkste Fraktion. In der Eröffnungsrede dieses Reichstages sprach die kommunistische Alterspräsidentin Clara Zetkin zwar von der Notwendigkeit einer "Einheitsfront" gegen den Faschismus, in der "alle fesselnden und trennenden politischen, gewerkschaftlichen, religiösen und weltanschaulichen Einstellungen zurücktreten müssen".

Tatsächlich hatte sich im Mai 1932 eine sogenannte Antifaschistische Aktion gebildet, die allerdings keinerlei Zweifel an ihrer ideologischen Grundhaltung und ihrer engen Bindung an die Sowjetunion aufkommen ließ. Im "Kampfgelöbnis" dieser Bewegung hieß es, daß sich die Mitglieder "mit Leib und Leben und ganzer Kraft - für die Verteidigung der kommunistischen Partei und aller proletarischen Organisationen, für die Verteidigung der Sowjetunion und für ein freies, sozialistisches Deutschland" einsetzen.

Die Antifaschistische Aktion hat damit ideologische Bedingungen und Perspektiven genannt, die von den potentiellen Bündnispartnern, vor allem von der SDP, nicht akzeptiert werden konnten, es sei denn durch Preisgabe der eigenen Standpunkte und freiwillige Unterwerfung unter die von der Komintern diktierte Generallinie, der selbst zahlreiche Kommunisten zum Opfer fielen. Wäre es der KPD wirklich um eine gemeinsame Aktion gegen den Nationalsozialismus und für die Bewahrung der demokratischen Ordnung der Weimarer Republik gegangen, dann hätte sie nach den einfachsten Grundsätzen der Massenkommunikation derart einseitige ideologische Bekenntnisse vermieden.

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Entgegen einem weitverbreiteten  Irrtum führte die Antifa den Kampf gegen den Kapitalismus nicht nur gegen die offen faschistischen Staaten, sondern mit gleicher Entschiedenheit gegen westliche Demokratien.

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In der Literatur wird immer wieder darauf hingewiesen, daß Clara Zetkin "eine scharfe Rede gegen die Nazis" gehalten habe, so zum Beispiel das "Lexikon linker Leitfiguren", zu denen Clara Zetkin selbstverständlich für die politische Linke noch immer gehört. Clara Zetkin hielt aber keine "scharfe Rede gegen Nazis", sondern gegen das amtierende Präsidialkabinett, das der "Handlanger des verkrusteten Monopolkapitals, der Großagrarier und der Reichswehrgeneralität". Vor allem aber rief sie zum "Sturz des bürgerlichen Staates und seiner Grundlage, der kapitalistischen Wirtschaft" auf und pries auch an dieser Stelle die bolschewistische Oktoberrevolution. Sie habe den "großen weltgeschichtlichen Beweis erbracht, daß den Schaffenden die Kraft eigne, alle ihre Feinde niederzuwerfen".

Bis zum Zeitpunkt dieser Rede von der Tribüne des Deutschen Reichstages waren das nach sicheren Quellen ungefähr fünfzehn Millionen, darunter etwa sieben Millionen Ukrainer, Opfer eines als Hungerkatastrophe deklarierten Genozid in den Jahren 1930/32, sowie cirka 50.000 Priester und Mönche. Trotzdem schloß Clara Zetkin ihre Rede in der Hoffnung, "das Glück zu erleben, als Alterspräsidentin den ersten Rätekongreß Sowjetdeutschlands zu eröffnen".

Sowohl von der Komintern als auch von der KPD wurden mit diesen Äußerungen Maßstäbe für die Auseinandersetzung mit dem Faschismus/Nationalsozialismus gesetzt, die im wesentlichen bis heute gültig geblieben sind: Der Begriff "Faschismus" darf im Interesse eines klaren ideologischen Feindbildes nicht auf den Nationalsozialismus verengt werden. Eine derartige Fixierung führt zu einer Verzerrung aller damit zusammenhängenden Probleme sowie des eigentlichen Wesens des Faschismus. Konsequenter Kampf gegen den Nationalsozialismus bedeutet zunächst einmal konsequenter Kampf gegen die bürgerlich-kapitalistische Staats- und Gesellschaftsordnung, in der der Nationalsozialismus verwurzelt ist.

Wenn ein Vergleich gestattet ist: Konsequenter und überzeugender Kampf gegen den Alkoholismus beschränkt sich nicht auf den Konsum von Wodka, Rum und Cognac, sondern jeglichen Alkohols - und damit natürlich auch auf Wodka. Es kommt also darauf an, eine genaue Reihenfolge der Prioritäten zu beachten und diese notwendige Reihenfolge dem Volke verständlich zu machen.

Dabei kommt es in entscheidendem Maße auf die Bereitschaft zur Zusammenarbeit mit kommunistischen Parteien und Intellektuellen an. Es ist gewissermaßen der politische Lackmustest für jeden aufrechten Antifaschisten. Eine Gleichsetzung von Kommunismus und Nationalsozialismus unter dem Rubrum "Totalitarismus" ist demnach ausgeschlossen. So erklärt sich, daß diese "Anleitung zum Handeln" gegen den Faschismus/Nationalsozialismus von der politischen und intellektuellen Linken bis heute beibehalten worden ist - trotz aller Erfahrungen mit dieser Strategie und dem daraus resultierenden Terror.

Aus der Fülle von Beispielen sei an Bert Brecht erinnert. Noch im Jahr 1934 hat er diese Linie konsequent fortgesetzt, als er in seinen Betrachtungen über die "Schwierigkeiten beim Schreiben der Wahrheit" bemerkte: "Der Faschismus kann nur bekämpft werden als Kapitalismus, als nacktester, frechster, erdrückendster und betrügerischster Kapitalismus. Wie will denn jemand die Wahrheit über den Faschismus sagen, gegen den er ist, wenn er nichts gegen den Kapitalismus sagen will, der ihn hervorbringt. Wie soll da seine Wahrheit praktikabel ausfallen?" Max Horkheimer, eine der großen Leitfiguren der 68er, hat 1939 die prägnante Kurzfassung geprägt: "Wer vom Kapitalismus nicht reden will, sollte auch vom Faschismus schweigen." Dieser Satz gehört heute noch zur ideologischen Grundausstattung des Antifaschismus.

Entgegen einem weitverbreiteten Irrtum ist der Kampf der Antifa gegen den Kapitalismus nicht nur gegen die offen faschistischen Staaten, also Deutschland, Italien, Spanien geführt worden, sondern mit gleicher Entschiedenheit gegen westliche Demokratien, insbesondere Großbritannien und Frankreich. Überzeugende Belege finden sich in den offiziellen Stellungnahmen der Komintern und der KPdSU in den Jahren 1939/43. Nach der gemeinsamen Aggression Hitlers und Stalins gegen Polen richtete sich der antifaschistische Hauptstoß gegen die Westmächte - und ausdrücklich nicht gegen Deutschland. Der sowjetische Außenminister Molotow erklärte vor dem Obersten Sowjet der UdSSR im Oktober 1939, "daß ein starkes Deutschland die notwendige Bedingung für einen dauerhaften Frieden in Europa" notwendig sei, den die "imperialistischen Kriegstreiber" in London und Paris aber nicht wollen. "Daher ist es nicht nur sinnlos, sondern auch verbrecherisch, einen Krieg für die 'Vernichtung des Hitlerismus' zu führen, einen Krieg, der drapiert wird mit der falschen Flagge eines Kampfes für die 'Demokratie'."

Selbstverständlich hat dieser vermeintliche Kurswechsel der Komintern in den kommunistischen Parteien und ihrer intellektuellen Gefolgschaft weltweit erhebliche Irritationen ausgelöst - nicht nur in Deutschland, sondern vor allem auch in Großbritannien und Frankreich. Der britische KP-Spitzenfunktionär und Redakteur des Daily Worker, Douglas Hyde, hat die Probleme dieser neuen Generallinie eindrucksvoll beschrieben, nach der die Antifaschisten den "Hauptstoß" plötzlich nicht mehr gegen Hitler richten sollten (weil er angeblich den Frieden wollte), sondern gegen die eigenen Regierungen (weil sie den Frieden angeblich nicht wollten und zum Kriege hetzten). Auch dies ist keine Einzelmeinung, wie dem Aufruf der Komintern zum 1. Mai 1940 zu entnehmen ist: "Die kapitalistischen Verbrecher stoßen die Völker in ein neues imperialistisches Weltgemetzel. Für sie ist der Krieg ein wahrer Goldregen, Blut und Tränen verwandeln sie in Aktien und märchenhafte Profite." Gemeint sind ausdrücklich "die englischen und französischen Kriegsbrandstifter und ihre sozialdemokratischen Lakaien", von denen einige namentlich genannt wurden: Blum, Jouhaux, Attlee und Citrine. Ihnen wird auch an dieser Stelle der "rücksichtlose Kampf" angesagt, nicht dem Hitler-Faschismus!

Im Kampf der Antifaschisten gegen die Nazis hat es also bemerkenswerte Unterbrechungen und Wendungen gegeben, über die zur Vermeidung von Fehleinschätzungen wieder einmal nachgedacht werden sollte. Dem Mythos Antifaschismus haben sie allerdings nicht geschadet: ein Beweis für den "Triumph der Gesinnung über die Urteilskraft" (Hermann Lübbe).

 

Prof. Dr. Klaus Motschmann lehrte Politikwisenschaft an der Hochschule der Künste in Berlin.


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