© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 18/06 28. April 2006

Der Gegenschlag
Eine Gewalttat wird zu einem nationalen Ereignis aufgebauscht - weil es ins politische Konzept passt
Doris Neujahr

In Potsdam hat in der vergangenen Woche ein Gewaltverbrechen stattgefunden, bei dem ein deutscher Staatsbürger äthiopischer Herkunft lebensbedrohlich verletzt wurde. Die beiden Täter - zu diesem Zeitpunkt ist hinzuzufügen: die mutmaßlichen - wurden dank professioneller Ermittlungsarbeit rasch dingfest gemacht. Das auf einer Mailbox festgehaltene Wort "Scheiß-Nigger", mit dem das Opfer während der Tat beschimpft wurde und das reflexhaft als Beweis für einen ursächlichen Rassismus gewertet wurde, war anscheinend die auf Distinktion abgestellte Begleitmusik zu einem Kneipenstreit, vergleichbar Ausdrücken wie "deutsches Schwein" oder "Christenschwein" aus dem Mund muslimischer Mitbürger.

Wie dem auch sei, alle rechtlich denkenden Bürger erwarten eine entsprechend ihrer Schuld harte Bestrafung der Täter. Es ist ein empörender Mißstand in Deutschland, daß Körperverletzungen, selbst schwere, häufig nur als Bagatellvergehen geahndet werden. Das gilt ganz unabhängig davon, ob die Opfer und Täter rechts, links oder unpolitisch sind, ob Deutsche oder Ausländer.

Durch ihre öffentliche Behandlung hat die Untat zusätzlich eine staatspolitische Dimension erhalten, die noch in ganz anderer Hinsicht zum Nachdenken anregen muß. Das Hysterisierungspotential in Medien und Politik ist so groß, daß es zwei Kleiderschränken aus der Türsteherszene mit einem einzigen Faustschlag gelingt, im größten Land der EU eine Woche lang die politischen Debatten zu bestimmen. Das eröffnet für Verrückte aller Art ungeheure Möglichkeiten, politische Entscheidungen in Deutschland zu manipulieren, und wirft die Frage auf, ob es bei früheren Verbrechen, die als Zeugnisse neonazistischer Niedertracht in die Annalen eingegangen sind, nicht auch in ganz anderer Weise mit unrechten Dingen zugegangen ist als allgemein angenommen.

Den deutschen Medien kam es - von Ausnahmen abgesehen - gar nicht darauf an, was in Potsdam passiert war, sondern welches politische Kapital sich daraus schlagen ließ. Mit wahrer Wollust wurde das Verbrechen als "ausländerfeindliche", "rechtsradikale" oder "rechte" Tat politisch aufgeladen und zur Gefahr für den inneren Frieden erklärt. Der Generalbundesanwalt machte sich diese Auffassung zu eigen und zog das Ermittlungsverfahren an sich.

Bei aller Abscheu über diese Tat: Man muß die Proportionen wahren! "Ausländerfeindliche" Gewalt, sei sie tatsächlich oder vermeintlich, macht nur einen Bruchteil der Gewaltkriminalität in Deutschland aus. In Berlin liest man mehrmals in der Woche von ähnlichen Verbrechen mit ebenfalls schlimmen Folgen für die Opfer. Nur gelangen die Meldungen über eine Kurzmeldung im Lokalteil nie hinaus. Die Betreuung der Opfer überläßt der Staat, der jetzt in Potsdam omnipräsent ist, privaten Vereinen wie dem Weißen Ring.

Der Grund für die losgetretene politische Kampagne liegt auf der Hand: Seitdem das Desaster an der Berliner Rütli-Schule öffentlich wurde, sind Multikulti und alle angrenzenden, politisch korrekten Ideologeme in einem Maße delegitimiert, daß nicht mehr ihre Kritiker, sondern ihre Verfechter unter Rechtfertigungsdruck stehen. Und dieser Druck wird steigen, je mehr die Folgen ihrer Politik hervortreten. Eine Verschiebung der Kräfteverhältnisse zunächst im vorpolitischen Raum erscheint möglich. Dem bedrohten Meinungskartell bot das Verbrechen von Potsdam die Gelegenheit zum propagandistischen Gegenschlag, inklusive der Demonstration staatlicher Macht: Die Delinquenten wurden gefesselt, im orangefarbenen Dreß, mit verbundenen Augen und verstopften Ohren zum Verhör geleitet. Guantánamo ließ grüßen!

Wie weit indes der Herdentrieb der Journalisten den Geist der Presse beherrscht, zeigte die Reaktion auf ein Interview Wolfgang Schäubles. Seine Einlassung, es würden auch blonde, blauäugige Menschen von Tätern heimgesucht, die möglicherweise keine deutsche Staatsangehörigkeit besäßen, was auch nicht besser sei, war die vornehme Umschreibung der Tatsache, daß weitaus mehr Deutsche Opfer von Gewaltverbrechen durch Ausländer werden als umgekehrt und daß die angelaufene Kampagne genau davon ablenken sollte. Das FAZ-Feuilleton, unfähig bzw. unwillig, den politischen Kern der Aussage zu identifizieren, übte sich in subtiler Sprachkritik, während die Berliner Zeitung titelte: "Schäuble isoliert sich". Deutlicher kann man nicht ausdrücken, daß es gar nicht um Wahr oder Falsch geht, sondern um die Befestigung von Machtverhältnissen.

Statt die Probleme auch nur zu erkennen, werden sie durch eigennütziges, ideologisches, auf jeden Fall falsches Handeln verschlimmert. Es ist ja unbestreitbar, daß in bestimmten Gegenden der ehemaligen DDR für Ausländer die Gefahr besteht, als solche angegriffen zu werden. Die Abschottung der DDR spielt gewiß eine Rolle, 16 Jahre nach dem Mauerfall allerdings eine nachrangige.

Bedeutsamer sind wohl die Veränderungen in der Bevölkerungsstruktur. Es gibt überproportional viele "Einheitsverlierer" - eine spezifische Nebengattung der "Modernisierungsverlierer" -, die ihren sozialen und gesellschaftlichen Prestigeverlust dem Westen anlasten und die Übertragung bundesdeutscher Strukturen auf ihre Lebenswelt als Überwältigung erlebten.

Am heftigsten wurde sie in der Aufforderung empfunden, sich der westdeutschen "Ausländerfreundlichkeit" als dem Symbol sittlich-moralischer Höherwertigkeit zu unterwerfen - und zwar zack, zack! -, obwohl diese Geisteshaltung eindeutig neurotische Züge trägt.

Die Übertragung der Westneurosen auf den sozial gestreßten Osten mußte dort zu furchtbaren Eruptionen führen, die selbst von der PDS nicht aufgefangen werden konnten. Erstens, weil die PDS ideologisch im proletarischen Internationalismus wurzelt, zweitens, weil sie sich selbst durch forcierte "Ausländerfreundlichkeit" der Westlinken als Bündnispartner empfehlen wollte. Die Ausländer sind Objekte und letztlich Opfer dieses zynischen Kalküls. Die Anti-Rechts- und -Rassismus-Programme, deren Weiterfinanzierung jetzt von einschlägigen politischen Kreisen gefordert wird, sind daher nicht bloß Geldverschwendung, sie sind auch kontraproduktiv, weil sie das Gefühl der Demütigung in der Ex-DDR verstärken und die Aggressivität steigern.

Als positiver Ertrag der Kampagne kann festgehalten werden, daß die Initiatoren ihr Ziel, die Debatten- und Bewußtseinslage in den Vor-Rütli-Zustand zurückzustoßen, nicht erreicht haben. Der Problemdruck ist zu real, als daß die Bürger sich mit durchsichtigen Manövern davon überzeugen ließen, er existiere nur in ihrem falschen Bewußtsein.


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