© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 18/06 28. April 2006

Dritte Nullrunde für 20 Millionen
Sozialpolitik: Die "dynamische Rentenformel" offenbart ihre Kehrseite / Unscheinbares neues Gesetz mit großen Auswirkungen
Klaus Peter Krause

Das, was auf sie zukommt, haben die fast 20 Millionen deutschen Rentner längst gewußt. Aber nun hat es der Bundestag am 6. April so auch gesetzlich beschlossen - im "Gesetz über die Weitergeltung der aktuellen Rentenwerte ab 1. Juli 2006". Der entscheidende Satz dort lautet: "Zum ersten Juli werden der aktuelle Rentenwert und der aktuelle Rentenwert (Ost) nicht verändert." Im Klartext heißt das: In diesem Jahr findet eine Rentenerhöhung abermals nicht statt. Salopp wird das Nullrunde genannt. Es ist nun schon seit 2004 die dritte.

Angesichts der desolaten Finanzlage der Gesetzlichen Rentenversicherung (GRV) sollen die Rentner sogar heilfroh sein, daß es keine "Minusrunde" geworden ist. Sie nämlich droht, wenn die Erwerbseinkommen - und zwar die durchschnittlichen beitragspflichtigen Bruttoverdienste der Arbeitnehmer und der Beamten - im jeweiligen Vorjahr gesunken sind. Eine solche mögliche Rentenkürzung entpuppt sich nunmehr als die Kehrseite dessen, daß die Altersrenten - etwas zeitversetzt - einmal im Jahr erhöht werden sollen, wenn die Erwerbseinkommen im Jahr davor gestiegen sind. Die Rentner sollten so am durchschnittlichen Einkommensanstieg der Berufstätigen teilhaben und vor inflationär bedingtem Kaufkraftverfall ihrer Rente geschützt werden.

Arbeitslosigkeit, niedrige Geburtenrate, Überalterung

Mit dieser "dynamischen Rentenformel" hatten die Bonner Politiker ihre Wähler seinerzeit beglückt, um ihnen die Abkehr von der kapitalgedeckten Rente hin zum Umlageverfahren (1957) schmackhaft zu machen. Die Finanzierung schien gesichert. Denn was die Berufstätigen monatlich in die GRV einzahlen müssen, ist ein Prozentsatz ihres Arbeitsentgelts. Steigen die Entgelte, steigen folglich auch die Beiträge, aus denen die Renten gezahlt werden.

Als Garanten für steigende Arbeitsentgelte galten Wirtschaftswachstum, das die Beschäftigung sichert, und steigende Produktivität. Damals allerdings war sich keiner bewußt, daß ein Rückgang der Erwerbseinkommen auch einen Rückgang der Rente auslösen würde. Ohnehin haben die wenigsten daran gedacht, daß bei zunehmender Arbeitslosigkeit, niedriger Geburtenrate und Überalterung zu wenige Beitragszahler zu viele Rentner finanzieren müssen.

Ebendies aber ist jetzt die fatale Situation. Tatsächlich wurden sogar ein Rückgang der Erwerbseinkommen und damit erstmals eine notwendige Senkung der Renten befürchtet. Dagegen stand das politische Versprechen, die Renten blieben auch in einem solchen Fall bis 2009 ungekürzt. Um dieses abzusichern, hat die schwarz-rote Große Koalition jenes Gesetz zum Fortgelten der gegenwärtigen Rentenwerte vorgelegt und im Bundestag verabschiedet.

Gesunken sind die Erwerbseinkommen nun aber doch nicht. Nach der endgültigen Berechnung der Statistiker sind sie sogar gestiegen, wenn auch nur minimal um 0,2 Prozent. Weil das aber zunächst ungewiß war, wurde das Gesetz vorsorglich eingebracht.

In der Begründung des Gesetzentwurfs heißt es dazu: "Aus heutiger Sicht ist nicht auszuschließen, daß die Lohnentwicklung eine geringe Minderung der Renten bewirken könnte. Die mit dem RV-Nachhaltigkeitsgesetz im Jahr 2004 eingeführte Schutzklausel würde dies nicht verhindern."

Doch schon bei der Verabschiedung stand fest: Nötig war das Rentensicherstellungsgesetz eigentlich doch nicht - jedenfalls noch nicht. FDP und Grüne nannten es daher überflüssig und meinten, es hätte zurückgezogen werden müssen - was die CDU aber als nicht sinnvoll zurückwies.

Aber von einem derart geringen Anstieg der Erwerbseinkommen haben die Rentner nichts. Er "reicht nicht aus, um eine Erhöhung der Rentenwerte aufgrund der Rentenanpassungsformel zu bewirken", liest man in der Gesetzesbegründung. Wissen muß man freilich, daß beim Berechnen der Erwerbseinkommen, die für die Anpassung der Renten maßgeblich sind, die schmalen Entgelte für die "Ein-Euro-Jobs" miteinbezogen werden. Sie drücken diesen Wert also nach unten.

Wenn es dagegen etwa um höhere Diäten für Bundestagsabgeordnete geht, bleiben sie beim Berechnen der allgemeinen Einkommensentwicklung außen vor. Das ist bezeichnend dafür, wie Politiker in eigenen Angelegenheiten mit anderem Maßstab messen als für das gemeine Volk. Dies hält wohl auch Vizekanzler Franz Müntefering (SPD) nicht für zumutbar. Er hat nämlich angekündigt, die "Ein-Euro-Jobs" auch für die Rentenanpassung aus der Berechnung der Einkommensentwicklung herauszunehmen; sie hätten die Rentenberechnung erheblich verzerrt.

Die Formel für die Rentenanpassung ist inzwischen äußerst kompliziert. Das Kölner Institut der deutschen Wirtschaft (IW) nennt sie ein "ausgeklügeltes mathematisches Monstrum". Ausgangspunkt ist der bisher geltende "Rentenwert". Mit der Formel wird er an die veränderten Bruttoverdienste angepaßt und heißt dann "aktueller Rentenwert". Der tatsächliche Anspruch eines Rentners ergibt sich aus seinen sogenannten Entgeltpunkten, die er während seines Berufslebens erworben hat und die mit dem aktuellen Rentenwert multipliziert werden. Maßgeblich dafür, wie sich die individuelle Rente verändert, sind also die jeweiligen Veränderungen des aktuellen Rentenwerts.

Demographischer Wandel erzwingt Anpassungsformel

In diese Anpassungsformel, die den aktuellen Rentenwert bestimmt, sind inzwischen drei Korrekturfaktoren eingebaut: der Riester-Faktor (seit 2002), der Dämpfungsfaktor und der Nachhaltigkeitsfaktor (seit Mitte 2005). Der Riester-Faktor berücksichtigt einen Abschlag für die staatliche Förderung der (zusätzlichen) privaten Altersvorsorge. Der Dämpfungsfaktor mindert den Rentenanstieg, wenn den Berufstätigen höhere Beitragssätze abverlangt werden.

Auf diese Weise wird die "Rentendynamik" gebremst, um nicht einseitig die Beitragszahler zu belasten. Der Nachhaltigkeitsfaktor dämpft den Rentenanstieg, wenn sich das Verhältnis von der Zahl der Beitragszahler zur Zahl der Rentenempfänger verschlechtert. Er spiegelt den demographischen Wandel in der Anpassungsformel wider. Riester- und Nachhaltigkeitsfaktor werden aber nicht angewendet, wenn sich dadurch der aktuelle Rentenwert vermindern würde - zum Beispiel deswegen, weil die Bruttoverdienste zu gering gestiegen sind. Durch diese "Niveausicherungsklausel" ist 2005 eine Rentenkürzung von 1 Prozent unterblieben.

Wollten sich die Rentner auf die Schätzung der Bundesregierung verlassen, könnten zumindest die westdeutschen bis 2019 auf einen durchschnittlichen Anstieg der Standardrente um jährlich 1,4 Prozent hoffen - allerdings nur dann, wenn die maßgeblichen Bruttoverdienste von 2010 um jährlich 2,5 Prozent steigen. Sollten es aber nur 1,5 Prozent Anstieg sein, würde sich die durchschnittliche Rentenerhöhung von 1,4 auf 0,7 Prozent halbieren. So hat es eine IW-Berechnung ergeben.

Darin ist eine mögliche vierte Korrektur noch nicht berücksichtigt: Rentenkürzungen, die nach der Anpassungsformel zwar fällig geworden, aber nicht vorgenommen worden sind, sollen bei später möglichen Rentenerhöhungen nachgeholt werden. Dann hält der "Nachholfaktor" Einzug in die Rentenanpassungsformel. Das riecht sehr nach dauerhaften Nullrunden.

Foto: Renter mit Geldbörse: Dämpfungs- und Nachhaltigkeitsfaktor wirkt


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