© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 18/06 28. April 2006

Es ist so schön, schuldig zu sein
Fritz Fischers Erste-Weltkrieg-Thesen bleiben trotz Widerlegung Bestandteil der Schulbildung
(JF)

Als 2003 ein von Richard F. Hamilton und Holger H. Herwig edierter Sammelband über "The Origins of World War I" erschien, resümierte der Rezensent Gregor Schöllgen als Fazit der Beiträge: Damit seien "die Thesen Fritz Fischers endgültig zu den Akten gelegt" (Historische Zeitschrift, Band 277/03).

Da der Band aber nicht übersetzt wurde, blieb dieser Paradigmenwechsel für das bundesdeutsche Geschichtsbewußtsein bislang folgenlos. Daher durfte Kanzler Schröder Anfang 2005 vor dem Bundestag immer noch Fischers zentrale These von der deutschen Hauptschuld auch am Ersten Weltkrieg feilbieten. Widerspruch war nicht zu erwarten, da sich Fischers - eigene frühe "völkische" und NS-Verstrickungen kompensierende - fixe Idee vom deutschen "Griff nach der Weltmacht" inzwischen nicht nur zum Handbuchwissen für Historiker verfestigt hat. Vielmehr hat sie als gesunkenes Kulturgut das allgemeine Geschichtsbewußtsein infiltriert. Wie sich aus einer DDR und BRD vergleichenden Analyse über "Fischers Thesen in Schulbüchern" von Rüdiger Bergien (Militärgeschichtliche Zeitschrift, 1/05) ergibt, trat in den Lehrmitteln "beider Deutschlands" während der siebziger Jahren der "radikale Bruch" mit dem traditionellen Geschichtsbild ein, das bis dahin, vor allem im westdeutschen Geschichtsverständnis, für 1914 von einem "Hineinschlittern" aller beteiligten Mächte ausging, während in der DDR Fischers Ansichten über den kriegslüsternen deutschen Imperialismus schon vorher in der marxistischen Kollegenzunft regen Zuspruch geerntet hatten.

In irritierendem Kontrast zu seinen eigenen Befunden bezweifelt Bergien jedoch, daß Fischers triumphaler Durchbruch über die Schulen hinaus auch das "kollektive Gedächtnis der heranwachsenden Generationen in Deutschland" geprägt habe. Obwohl "Hunderttausende" von Schülern mit Fischers Thesen in Berührung kamen und sie die bis heute "vorherrschende" sei, dürfe man ihnen nur "gewisse Wirkungen unterstellen", über die sich Bergien aber leider ausschweigt. Statt dessen verweist er auf die größte empirische Studie über "Vergangenheitsdeutung und Gegenwartswahrnehmung" von deutschen Schülern. Die sei 1995 nach der Befragung von 6.500 Probanden zu dem Schluß gelangt, daß "Schulbücher kaum Einfluß auf das Welt- und damit auf das Geschichtsbild von Jugendlichen haben".

Foto: Fritz Fischer (1908-1999)


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