© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 21/06 19. Mai 2006

Pankraz,
S. Christiansen und die Kunst des Zuhörens

Nun hören Sie mir doch erst mal richtig zu!" Dieser Satz, meistens in gereiztem oder scharf forderndem Ton ausgestoßen, gehört, mit Variationen, zur Standardausstattung moderner Kommunikation, besonders in der Politik. Bei "Sabine Christiansen" und in anderen einschlägigen Polit-Talkshows kann man ihn pro Sendung stets gleich mehrere Male vernehmen; darauf läßt sich wetten. Das richtige Zuhören ist dort - und nicht nur dort - offenbar knappste Mangelware.

Was aber ist denn "richtiges" Zuhören? Genügt es nicht, einfach zuzuhören, zur Kenntnis zu nehmen, was der andere sagt, und sich sein Teil dabei zu denken? Manchmal ist das, was der Redende verlautbart, ja recht wirres Zeug, das sich der Zuhörer erst mühsam auseinanderfalten muß, um hinter den Sinn zu kommen - sofern es überhaupt einen Sinn gibt. Der Redende indessen verlangt vom Zuhörer, daß dieser im Nu alles "versteht", inklusive sämtlicher Nebentöne und Lautmodulationen, doch exklusive eventueller unlauterer Absichten, die der Redende mit seiner Suada schlau verbergen möchte, statt sie preiszugeben.

Der Zuhörer soll also oftmals gar nicht richtig, sondern falsch zuhören, gerade wenn er vom Redenden aufgefordert wird, "endlich einmal richtig" zuzuhören. Gesten und Mimik des Zuhörers spielen eine große Rolle. Jedes ablehnende Mienenspiel seinerseits, ob irritiert oder amüsiert, jede kleine Geste der Ungeduld wird vom Redner sofort voller Zorn als falsches Zuhören gedeutet und gegebenenfalls umgehend gebrandmarkt.

Faktisch kann es in der Politik gar kein richtiges Zuhören geben. Sie ist die Sphäre des grundsätzlich falschen Zuhörens oder, genauer noch: Politik ist falsches Zuhören. Keine ihrer Reden meint das, was sie dem Wortsinn nach eigentlich bedeuten müßte. Ein sprachenkundiger Marsbewohner, der zufällig in eine politische Versammlung oder Polit-Talkrunde der Erdlinge hineingeriete und alles, was er dort zu hören kriegt, zum wortgenauen Nennwert nähme, läge bei einer Ausdeutung des Gehörten völlig schief, bekäme gar nicht mit, worum es in der Runde eigentlich geht.

Gute Politiker wissen das natürlich, aber auch sie raunzen in der Hitze des Gefechts ihre Zuhörer oft grob an, daß sie nun endlich einmal richtig zuhören sollten. Das richtige Zuhören ist eben ein Sehnsuchts-Topos der zwischenmenschlichen Kommunikation, eine Diskurs-Utopie, unerreichbar zwar, doch trotzdem immer wieder erfleht.

Nicht nur in der Politik ist das übrigens so, sondern auch in ganz politikfernen Gesprächssituationen, bei Arzt-Patienten-Gesprächen beispielsweise, wo die Patienten selten in der Lage sind, ihr Leiden präzise und fachgerecht vorzutragen, und innig darauf hoffen, daß es der Arzt, als gleichsam gelernter Zuhörer, dennoch richtig versteht.

Hier, beim Arzt-Patienten-Gespräch, zeigt sich, daß richtiges Zuhören keineswegs immer identisch ist mit dem Vernehmen der reinen Wahrheit und nichts als der Wahrheit hinter allen Vokabeln. Der Aufklärung und Heilung suchende Patient erwartet von seinem ärztlichen Zuhörer oft, daß dieser der Patientenrede nicht nur die genaue Diagnose des somatischen Leidens entnimmt, sondern auch die Erkenntnis, daß der Patient voller verzweifelter Hoffnung auf Genesung ist, und sein Zuhörer das in seinen Maßnahmen und Ratschlägen mitberücksichtigt; nur das ist in der Patientenperspektive richtiges Zuhören. Im Lehrer-Schüler-Verhältnis wiederum kommt es für den Lehrer in erster Linie darauf an, daß die richtig zuhörenden Schüler sich nicht ablenken lassen. Denn auch das Sich-Ablenken-Lassen ist eine große Schicksalsmacht, die sich dem richtigen Zuhören gern in den Weg stellt.

Es genügt nicht, daß der Lehrer die Tatbestände und Ideen in all ihrer komplizierten Logik glasklar darstellt, er muß auch dafür sorgen, daß diese Logik das Verstehenwollen bei den Zuhörern nicht überfordert und sie nicht in die Langeweile treibt. Er muß "farbig" sprechen, sich der jeweiligen Situation anpassen, das Interesse der Schüler wachhalten und anfeuern. Nur so kann richtiges Zuhören entstehen.

Richtiges Zuhören ist keine Einbahnstraße. Redner und Zuhörer müssen gemeinsam an seinem Zustandekommen arbeiten, was auf beiden Seiten kommunikative Bereitschaft, ja Leidenschaft voraussetzt. Schon die großen Rhetoriker im klassischen Griechenland und im alten Rom haben intensiv über diese Konstellation nachgedacht.

Quintillian (30 bis 96 n. Chr.), dessen Einfluß bis weit ins christliche Mittelalter hineinreichte, ermahnte die Redenden, stets dessen eingedenk zu sein, daß ihr Darlegen und Argumentieren auch "dem halben Ohr" verständlich und angenehm sein müsse. Anders sei niemals ein lebendiger Kontakt zu den Zuhörern herzustellen.

Den Zuhörern empfahl er, vorab Nachsicht mit dem Redenden walten zu lassen und ihm "Geneigtheit", "Aufmerksamkeit" und "Gelehrigkeit" entgegenzubringen. "Geneigtheit" - das meinte Vorurteilsfreiheit, Bereitschaft, notfalls freundlich über gewisse rhetorische Unzulänglichkeiten hinwegzusehen, sich ehrlichen Sinnes auf die Intentionen des Redners einzulassen. Und "Aufmerksamkeit" - das meinte, sich nicht von nichtigen Reizen ablenken zu lassen, sich für die Dauer der Rede frisch und rezipierfähig zu halten und schwere kritische Einwände zunächst einmal beiseite zu stellen, sich geduldig das Ganze bis zum Ende anzuhören.

Am wichtigsten war die dritte Empfehlung, die Gelehrigkeit. Sie meinte, daß man sich als guter Zuhörer, auch wenn man noch sehr jung sei, "mit heiligem Ernst" dem Habitus wahrer Erkenntnisfreude anzuverwandeln und dem Geschwafel der Demagogen (Politiker) und dem Grölen des Pöbels auf den Marktplätzen zu widerstehen habe. Nur so werde man ein wahrhaft guter Zuhörer. Das gilt auch noch heute.


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