© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 21/06 19. Mai 2006

Herzzerreißende Abschiedsszenen
Berlins globalisierungskonforme Familienpolitik und ihre norwegische Alternative
Oliver Busch

Was haben die allmorgendlich vor Kinderkrippen sich abspielenden "herzzerreißenden Abschiedsszenen von Kleinkindern und ihren Müttern" gemein mit der vom Zeitvertrag geprägten "neuen Ökonomie"? Aus der Perspektive des geübten Soziologen spiegelt sich in Kinderkrippen und Arbeitsalltag gleichermaßer wider, daß wir in einer "Gesellschaft der Beziehungslosigkeit" leben.

Burghard Behncke, der dies behauptet, ist kein Soziologe, sondern Psychologe, was ihn aber nicht hindert, scheinbar individuelle seelische Störungen in ihrem gesellschaftlichen Zusammenhang wahrzunehmen (Psyche - Zeitschrift für Psychoanalyse und ihre Anwendungen, 3/2006). Ausgangspunkt seiner psychosozialen Sondierungen war die Familienpolitik der abgewählten rot-grünen Bundesregierung, an der die jetzt amtierende schwarz-rote Koalition bislang weitgehend festhält. Also auch am eingeschlagenen Weg, bis 2010 in den alten Bundesländern das Betreuungsangebot von heute fünf auf zwanzig Prozent aller Kinder unter drei Jahren zu erweitern und damit den neuen Bundesländern anzunähern, wo, als Erbe der sozialistischen "Errungenschaften", zur Zeit für 37 Prozent dieser Altersgruppe ein Krippenplatz zur Verfügung steht.

Wie Behncke verwundert feststellt, findet diese Variante der Familienpolitik, von der man sich auch eine Steigerung der Geburtenrate erhofft, eine "erstaunlich breite Zustimmung" bei Wirtschaft, Gewerkschaften, Kirchen und veröffentlichter Meinung. Dies sei um so erschrekkender, weil es sich offensichtlich um einen Rückfall in die schwärzeste Zeit des DDR-Kollektivismus handele. Damals, um 1970, waren achtzig Prozent der Kleinkinder meist schon einige Monate nach der Geburt in Krippen untergebracht. Daß sich das Angebot auf dem einstigem DDR-Territorium bis heute halbiert hat, hängt natürlich mit dem Mauerfall zusammen, doch ist es auch eine Folge der seit Mitte der siebziger Jahre von der SED vorgenommenen Korrekturen. Denn unter dem Druck der Kritik an seelischen Schäden von Krippenkindern, wie Eß-, Schlaf- und Verhaltensstörungen, sah sich "die Partei" schon 1976 gezwungen, die Krippenerziehung zu reduzieren und ein bezahltes Babyjahr einzuführen, das der lange als "bürgerlich" geschmähten "privaten" Mutter-Kind-Beziehung zugute kam. Ausgerechnet eine sich programmatisch "bürgerlich" gebende christdemokratische Politik trägt nun dazu bei, hinter den Pankower Kurswechsel von 1976 zurückzufallen.

Krippenkinder als Prototypen globalisierter Gesellschaften

Wie Behncke einräumt, ist die Schädlichkeit der Krippenerziehung unter Kinderpsychologen heftig umstritten. Lange hatten zwar die Modellannahmen der "Klassiker" Melanie Klein, Erik H. Erikson und René Spitz fast dogmatische Geltung, wonach in symbiotischer Beziehung zwischen Mutter und Säugling das "Urvertrauen" wachse, das die Basis aller positiven Entwicklungsmöglichkeiten des Kindes sei. Fehle in den ersten drei Jahren das "affektive Klima" dieser stabilen Beziehung, komme es zwangsläufig zu psychischen und körperlichen Deprivationsphänomenen, die Spitz als "Hospitalismus" beschrieb und die primär als Folgen kollektivierter Kinderbetreuung in Säuglingsheimen und Krippen nicht nur des Ostblocks auftraten. Jüngere Kinderpsychologen erhoben dagegen den Einwand, daß der Säugling schon über scharfe Ich-Grenzen verfüge, die nicht erst das Resultat eines stabilen Mutterkontakts seien. Die "Symbiose" sei also reine Mythologie, wie 1985 der Entwicklungspsychologe Daniel Stern verkündete.

Vornehmlich auf Stern, so meint Behncke, beriefen sich bis heute alle Befürworter der Krippenerziehung, obwohl die Theorie der "Klassiker" inzwischen durch empirisch breit fundierte Studien erhärtet worden sei. Als wissenschaftlich hinreichend abgesicherte Aussage dürfte mithin nun gelten: "Die Mutter-Kind-Beziehung verschlechtert sich, je früher und länger ein Kind in der Außenbetreuung ist." Daraus folgt für das "außenbetreute" Kind eine schlechtere kognitive und sprachliche Entwicklung sowie eine höhere Neigung zu aggressiver Asozialität und "dysfunktionaler" Einstellung. Auf gar nicht so wundersame Weise werde damit aber der prototypische Bewohner globalisierter Gesellschaften herangezogen. Eine Arbeitswelt, die allein dem ökonomischen Rationalismus unterworfen ist, in der der "Zeitvertrag" das Lohnverhältnis auf den raschen "Beziehungsabbruch" einstellt und "Mobilität" nur ein Tarnwort ist für "Austauschbarkeit" im Interesse selbstzweckhafter, zum obersten gesellschaftlichen Wert erhobener "Gewinnmaximierung", empfängt den verhaltensgestörten, früh an oberflächliche Sozialbeziehungen, an "Bindungslosigkeit" gewöhnten Arbeitnehmer mit Kußhand. Eine ausschließlich ökonomisch determinierte Berufswelt ist daher natürlich am "Krippensystem" interessiert, dessen Zöglinge die herrschenden Werte und Einstellungen wiederum verstärken.

Um diesen Teufelskreis einer den Herausforderungen des 21. Jahrhunderts kaum gewachsenen "schizoiden Gesellschaft" zu durchbrechen, fordert Behncke eine "umfassende Wertediskussion". Die hätte sich zuerst einmal mit dem "Modell Norwegen" auseinanderzusetzen. Dort werde neuerdings dem Elternteil, das mit dem Kleinkind zu Hause bleibt, drei Jahre lang ein recht ansehnlicher monatlicher Betrag gezahlt. Frankreich sei dem schon gefolgt, wenn auch leider mit geringerem finanziellen Ausgleich. Ob das durch das Bundeskabinett beschlossene Elterngeld ein probates Mittel in diese Richtung darstellt, dürfte mehr als fraglich sein.


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