© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 22/06 26. Mai 2006

Viele offene Fragen zum EU-Beitritt
Türkei: Eine Studie des BDI zeichnet die dortige Wirtschaft im rosigsten Licht / Soziale Probleme ausgeblendet
Peter Lattas

Die Türkei ist mit der EU und insbesondere mit Deutschland wirtschaftlich und politisch bereits eng verflochten. Wie intensiv, geht aus der im Auftrag des Bundesverbands der Deutschen Industrie (BDI) herausgegebenen Studie "EU-Kandidat Türkei: Wirtschaft, Wirtschaftsbeziehungen und EU-Verhandlungen" hervor. Wirtschaftspolitik und Perspektiven des Landes am Bosporus werden darin im günstigsten Licht beschrieben. Eine Antwort auf die Frage, warum der türkische EU-Beitritt von Nutzen sein soll, sucht man allerdings vergebens.

Anlaß für die Veröffentlichung war das zehnjährige Bestehen der Zollunion EU-Türkei. Seit 1996 habe sich der Anteil der EU-Staaten am türkischen Außenhandel kontinuierlich erhöht. 2004 machte der Umsatz mit der EU-25 die Hälfte des gesamten türkischen Handels aus, allein in diesem Jahr war er um 22 Prozent gestiegen. 55 Prozent der türkischen Exporte gehen in die EU. Für die EU wiederum steht die Türkei an siebter Stelle in der Rangliste der wichtigsten Handelspartner.

Innerhalb der EU ist Deutschland seit langem die erste Adresse für türkische Im- und Exporte: Ein Siebtel des Handelsvolumens wird mit Deutschland abgewickelt, das Volumen erreichte 2004 fast zwanzig Milliarden Euro. Von 2001 bis 2004 hat sich das Volumen der deutschen Ausfuhren an den Bosporus auf knapp zwölf Milliarden Euro fast verdoppelt; die deutschen Importe aus der Türkei stiegen von 6,5 auf 7,9 Milliarden Euro. Der seit 1993 jährlich tagende deutsch-türkische Kooperationsrat, die 1994 in Istanbul gegründete deutsch-türkische Handelskammer und ihr Pendant in Köln haben nach Auskunft der Studie wesentlichen Anteil an der Vertiefung dieser Wirtschaftsbeziehung. Die meisten in der Türkei investierenden Firmen kommen aus Deutschland; es gibt 1.200 deutsche Tochterfirmen und deutsch-türkische Unternehmen in der Türkei.

Das sind bemerkenswerte Zahlen und Fakten. Warum aber sollte die Türkei der Union auch direkt beitreten? Offenkundig sind intensive Handelsbeziehungen ja auch ohne EU-Mitgliedschaft möglich und ausbaubar. Anstelle einer Antwort präsentiert die BDI-Studie die türkische Finanz- und Wirtschaftspolitik in einem durchweg positiven Licht, um etwaige Bedenken im Vorfeld auszuräumen. Tatsächlich vorhandene Probleme wie die zentralistische Verwaltung, die industrielle und infrastrukturelle Unterentwicklung weiter Landesteile oder die Neigung zu staatlichem Dirigismus werden zwar in Nebensätzen angesprochen, dabei aber sogleich durch den Hinweis auf Reformanstrengungen abgeschwächt.

Von Willkür, Brutalität und Korruption wird geschwiegen

Von Willkür, Korruption und Brutalität bei Polizei und Justiz wird geschwiegen; lediglich "eine ausgeprägt starke Rolle des Staates" als Folge des osmanisch-kemalistischen Erbes wird erwähnt. Lieber beschränkt man sich auf allgemeine Bemerkungen zur westlich-demokratischen Verfassung der Türkei, die freilich wie viele Reformgesetze auf geduldiges Papier geschrieben ist. Türkei-Lobbyisten wie der britische Historiker Norman Stone sprechen von "einer Art Wirtschaftswunder" und ziehen den Vergleich mit dem spanischen Aufschwung in den siebziger und achtziger Jahren. Das wirft weitere, in der Studie leider unbeantwortete Fragen auf. Die spanische Wirtschaftsblüte verdankt sich bekanntlich vor allem großangelegten Finanztransfers aus Brüssel. Auch die Türkei profitiert davon bereits über das Instrument der "EU-Beitrittspartnerschaft". Die erste Beitrittspartnerschaft wurde mit der 1999 zum Kandidaten erhobenen Partei im Jahr 2001 vereinbart, eine revidierte Fassung trat in diesem Frühjahr in Kraft.

Diese Partnerschaftsabkommen enthalten "kurz- und mittelfristige Aufgaben unterschiedlicher Priorität", die der Kandidat in Politik, Wirtschaft und Verwaltung in Angriff nehmen muß und für die jährlich festgelegte finanzielle Hilfen zugeteilt werden. Für 2002 und 2003 waren das im Falle Ankaras je 177 Millionen Euro, für 2004 und 2005 250 bzw. 300 Millionen Euro, für 2006 steht eine halbe Milliarde bereit. Von 2007 bis 2013 sollen auf Vorschlag der EU-Kommission jährlich eine Milliarde Euro "Heranführungshilfen" budgetiert werden, mit denen die Türkei im Rahmen des "Instrument for Pre-Accession" (IPA) unterstützt werden soll, das die bisherigen Programme wie PHARE ersetzt. Dazu kommen der Zugriff auf Darlehen der Europäischen Investitionsbank sowie "Twinning-Projekte" zur Stärkung der öffentlichen Verwaltung; die Hälfte dieser Projekte führt Deutschland als "der mit Abstand am stärksten engagierte EU-Mitgliedstaat" durch.

Mit ihrem euphorischen Grundton ist die BDI-Studie repräsentativ für eine wirtschaftsfixierte Betrachtungsweise, wie sie die gesamte Beitrittsdebatte dominiert. Die politischen, sozialen und demographischen Folgen für die EU-Staaten kommen in dieser Sichtweise allenfalls beiläufig vor. Entscheidend sei, für deutsche wie für türkische Firmen, daß "politisch und wirtschaftlich berechenbare Beziehungen zwischen EU und Türkei die unternehmerische Planungssicherheit weiter erhöhen". Da der wechselseitige Handel auch ohne Vollmitgliedschaft bereits prosperiert - plant da der ein oder andere etwa schon mit erleichtertem Arbeitsplatzexport nach dem Türkei-Beitritt, wenn die derzeitigen Neumitglieder bis dahin schon wieder zu teuer geworden sind?

Die Studie des BDI findet sich im Internet unter
  www.bdi-online.de/Dokumente/Europapolitik/EU-Kandidat_Tuerkei 

Foto: Kraftwerk Iskenderun: Von deutschen Firmen erbaut und im Jahr 2004 unter Freunden eingeweiht (Kanzler Gerhard Schröder, Ministerpräsident Recep Erdogan und Werner Müller von der Ruhrkohle AG, v.l.n.r)


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