© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 22/06 26. Mai 2006

Als die Ideologie über die Forschung triumphierte
Historikerstreit: Vor zwanzig Jahren erwies Jürgen Habermas der vergleichenden Geschichtswissenschaft einen Bärendienst
Thorsten Thaler

Die geistig-politische Landschaft ist verändert, plötzlich und tiefer, als je ein politisches Ereignis es vermochte, das von innen kam und von einem einzelnen ausging." So beschrieb der Bremer Historiker Imanuel Geiss, Schüler von Fritz Fischer und ursprünglich ein linker Flügelstürmer seiner Zunft, 1988 den zwei Jahre zuvor mit der "Urgewalt eines Vulkanausbruchs" (Geiss) über die Bundesrepublik hereingebrochenen "Historikerstreit", dessen Beginn sich heuer zum zwanzigsten Mal jährt.

Wann immer in diesen letzten zwei Jahrzehnten vom "Historikerstreit" die Rede war, hieß es, der Berliner Historiker Ernst Nolte habe ihn 1986 mit seinem Artikel über die "Vergangenheit, die nicht vergehen will" ausgelöst. Das ist weniger als die halbe Wahrheit. Vom Zaun gebrochen hat die Kontroverse ein Nichthistoriker, nämlich der linksliberale Frankfurter Sozialphilosoph Jürgen Habermas mit seiner politisch-ideologisch motivierten Polemik gegen Nolte, die auch vor persönlichen Angriffen nicht zurückschreckte.

Doch der Reihe nach: Am 6. Juni 1986 erschien in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung der besagte Artikel Noltes. Darin griff er ­- was später kaum mehr Beachtung fand - seine These von der Priorität der sowjetischen und linksrevolutionären Vernichtungsmaßnah-men auf, die er Jahre zuvor bereits in einem Vortrag "Zwischen Geschichtslegende und Revisionismus?" in der Münchner Carl-Friedrich-Stiftung dargelegt hatte.

Für Perspektivenwechsel in der historischen Betrachtung

Ausgehend von der Singularität nationalsozialistischer Gewaltverbrechen an mehreren Millionen europäischer Juden ("nach Motivation und Ausführung ohne Beispiel") wandte Nolte sich gegen eine Dämonisierung des Dritten Reiches und plädierte für "gründliche Bestandsaufnahmen und eindringliche Vergleiche". Auschwitz, so Nolte, resultiere nicht in erster Linie "aus dem überlieferten Antisemitismus und war im Kern nicht ein bloßer 'Völkermord', sondern es handelte sich vor allem um die aus Angst geborene Reaktion auf die Vernichtungsvorgänge der Russischen Revolution". Die Massenvernichtung auf quasi industrielle Weise sei entsetzlicher und abstoßender gewesen als das Original, was zwar ihre Singularität begründe, aber nichts daran ändere, daß "die sogenannte Judenvernichtung des Dritten Reiches eine Reaktion oder verzerrte Kopie und nicht ein erster Akt oder das Original war".

Als eine gekürzte Fassung dieses Vortrags kurze Zeit später am 24. Juli 1980 unter dem Titel "Die negative Lebendigkeit des Dritten Reiches" in der FAZ veröffentlichte wurde, riefen Noltes Ansichten keinerlei Aufregung hervor, weder in der Historikerzunft noch in den einschlägigen Milieus altbundesrepublikanischer Diskurswächter vom Schlage Habermas'.

Anders der Artikel von 1986. Seine Kernsätze waren in Frageform gekleidet: "Vollbrachten die Nationalsozialisten, vollbrachte Hitler eine 'asiatische' Tat vielleicht nur deshalb, weil sie sich und ihresgleichen als potentielle oder wirkliche Opfer einer 'asiatischen' Tat betrachteten? War nicht der 'Archipel GUlag' ursprünglicher als Auschwitz? War nicht der 'Klassenmord' der Bolschewiki das logische und faktische Prius des 'Rassenmords' der Nationalsozialisten?" Nolte verstand diese Fragen, wie er später selbst erklärte, als Aufforderung an die Wissenschaft, sich mit dem Europäischen Bürgerkrieg zwischen 1917 und 1945 in allen seinen Facetten zu beschäftigen und ihn als "das ideologische Grundereignis" jener Epoche zu betrachten.

Daß Nolte mit seiner These einen Perspektivenwechsel in der historischen Betrachtungsweise anregte, der Anstoß erregen und zu Zweifeln Anlaß geben mußte, war ihm dabei durchaus bewußt. Nicht voraussehen konnte er indes, mit welcher Wucht und Schärfe dann die Anwürfe auf ihn niederprasselten, und noch weniger, daß am Ende der rund zwei Jahre währenden Auseinandersetzung seine nahezu totale Ausgrenzung und Ächtung stehen würde.

Das Unheil nahm seinen Lauf mit einem Referat von Jürgen Habermas bei einer Anhörung der SPD-Bundestagsfraktion zum Deutschen Historischen Museum, das als Artikel unter dem Titel "Eine Art Schadensabwicklung" am 11. Juli 1986 in der Hamburger Wochenzeitung Die Zeit erschien. Der Hausphilosoph der Bonner Republik nahm darin nicht nur Nolte ins Visier, sondern auch dessen Fachkollegen Andreas Hillgruber (Köln), Michael Stürmer (Erlangen) und Klaus Hildebrandt (Bonn). Allen vier Historikern warf er Revisionismus und "apologetische Tendenzen in der deutschen Zeitgeschichtsschreibung" vor.

Hillgruber attackierte er wegen dessen im Frühjahr veröffentlichten Buches "Zweierlei Untergang", Hildebrandt wegen einer zustimmenden Rezension über Nolte in der Historischen Zeitschrift und Stürmer wegen diverser Leitartikel in der FAZ.

Wohlwissend um seine fehlende historische Fachkompetenz, führte Habermas seinen mit persönlichen Invektiven durchsetzten Angriff auf der ideologischen Ebene, indem er den Primat des Politischen in Stellung brachte gegen den Primat der Wissenschaftlichkeit und so für eine "Irrationalität der Debatte" (Geiss) sorgte. Am meistens fürchtete sich Habermas vor einer "Wiederbelebung des Nationalbewußtseins", der "nationalgeschichtlichen Aufmöbelung einer konventionellen Identität", vor Nationalstolz, Patriotismus und kollektivem Selbstwertgefühl. Seine ganze Sorge galt universalistischen Wertorientierungen und der Ausbildung einer postkonventionellen Identität.

Habermas plädiert für den Verfassungspatriotismus

Auschwitz als Gründungsmythos deutscher Nachkriegsgeschichte? Lange vor Joseph Fischer klang das bei Habermas so: "Eine in Überzeugungen verankerte Bindung an universalistische Verfassungsprinzipien hat sich leider in der Kulturnation der Deutschen erst nach - und durch - Auschwitz bilden können." Wer den Deutschen die Schamröte über Auschwitz austreiben und sie zu einer konventionellen Form ihrer nationalen Identität zurückrufen wolle, "zerstört die einzige verläßliche Basis unserer Bindung an den Westen", so Habermas. Sein weltanschauliches Credo bündelte er in dem Satz: "Der einzige Patriotismus, der uns dem Westen nicht entfremdet, ist der Verfassungspatriotismus."

Mochte Habermas hier auch seine intellektuelle Bankrotterklärung abgeliefert haben, die Debatte war damit gleichwohl eröffnet. Und sie fand mit einer Heftigkeit und Ausdauer statt, die ihresgleichen vorher vielleicht nur Anfang der sechziger Jahre in der Fischer-Kontroverse um den deutschen Schuldanteil am Ersten Weltkrieg und später in dem Streit um Martin Walsers Paulskirchenrede fand. Die Auswirkungen der "Habermas-Kontroverse" (Geis) für die Geschichtswissenschaft im allgemeinen und für Ernst Nolte im besonderen waren indes weitaus fataler.

Klaus Hildebrandt bezeichnete Habermas' Artikel als "trübes Gebräu", "Gegenaufklärung" und eine Vermischung von Politik und Wissenschaft, bei der die Wissenschaft auf der Strecke bleibe. In einem FAZ-Aufsatz vom 31. Juli 1986 warf er ihm fehlerhafte Zitate, Vergröberungen und Schnoddrigkeit vor. "Wer sein Geschichtsbild und seine Macht auf Kosten der Wahrheitsfindung retten will, (muß) zu Simplifizierungen Zuflucht nehmen und zur Forschung auf Distanz gehen."

In die gleiche Kerbe schlug auch Michael Stürmer in einem Leserbrief an die FAZ (16. August 1986). Er sprach von "phantasievoller Erfindung" Habermas' und einer Anklage, die sich ihre Belege selbst fabriziert. "Er hat die Aufklärung gepachtet und läßt den Zweck die Mittel heiligen. Schade um einen Mann, der einmal etwas zu sagen hatte."

Bessere Argumente gegen die stärkeren Hilfstruppen

Joachim Fest, damals Mitherausgeber der FAZ, qualifizierte die Vorwürfe Habermas' als den Versuch eines wissenschaftlichen "und womöglich persönlichen" Rufmords. Nolte habe keineswegs die Singularität der nationalsozialistischen Vernichtungsaktionen geleugnet. Falls es sich bei Habermas nicht "um eine Form akademischer Legasthenie handelt, bleibt nur die Annahme, daß hier ein ideologisches Vorurteil sich die Dinge erst zurechtrückt, um sie dann attackieren zu können".

Einmal mehr habe sich gezeigt, so Fest in seinem langen Aufsatz am 29. August 1986, "daß die Siegelbewahrer der neuen Aufklärung, wenn Umstände und Interessen es nahelegen, zugleich die 'Mandarine' der Mythen sind. Denn Hitler und der Nationalsozialismus sind noch immer, aller jahrelangen Gedankenmühe zum Trotz, mehr Mythos als Geschichte, und die öffentliche Erörterung zielt nach wie vor mehr auf Beschwörung als auf Erkenntnis."

Für Habermas Partei ergriffen im Laufe des Jahres 1986 neben anderen Eberhard Jäckel (Die Zeit, 12. September), Jürgen Kocka (Frankfurter Rundschau, 23. September), Hans Mommsen (Merkur, September/Oktober und Blätter für deutsche und internationale Politik, Oktober), Martin Broszat (Die Zeit, 3. Oktober), Heinrich August Winkler (Frankfurt Rundschau, 14. November), Kurt Sontheimer (Rheinischer Merkur, 21. November). Rudolf Augstein schwadronierte im Spiegel gar von der "neuen Auschwitz-Lüge" (6. Oktober).

In Schutz genommen wurden die vier Angegriffenen außer von Joachim Fest vor allem von den Historikern Thomas Nipperdey (München) und Horst Möller (Erlangen). Dazwischen gab eine einige wenige Wortmeldungen, die um eine ausgleichende Sichtweise bemüht waren und für eine Versachlichung der Debatte plädierten.

Und Ernst Nolte, auf den sich die Kontroverse zunehmend fokussierte? In der Zeit vom 31. Oktober 1986 erhielt er noch einmal die Gelegenheit, seinen Kritikern zu antworten: "Der Archipel Gulag ist schon deshalb 'ursprünglicher' als Auschwitz, weil er dem Urheber von Auschwitz vor Augen stand und nicht Auschwitz den Urhebern des Archipel Gulag. Aber es gibt gleichwohl einen qualitativen Unterschied zwischen ihnen. Es ist unzulässig, den Unterschied zu übersehen, aber es ist noch unzulässiger, den Zusammenhang nicht wahrhaben zu wollen."

Am Ende des Historikerstreits, der bis weit in das Jahr 1987 hineinreichte, lagen wenn nicht die besseren Argumente, so doch die stärkeren Hilfstruppen auf seiten der Habermas-Fraktion. Der Geist der alten Bonner Republik hatte sich noch einmal behauptet.

Foto: Sozialphilosoph Jürgen Habermas: Angriff auf der politisch-weltanschaulichen Ebene

 

Politischer Hintergrund
Rückschau: Ernst Nolte äußert sich zum Historikerstreit

In einem Gesprächsband, der unter dem Titel "Einblick in ein Gesamtwerk" in der Edition Antaios (Schnellroda 2005, 128 Seiten, 12 Euro) erschienen ist, äußert sich der Berliner Geschichtsprofessor Ernst Nolte auch zu den Hintergründen des Historikerstreits vor zwanzig Jahren: "Der ganze Historikerstreit war ein mixtum compositum. Es fing damit an, daß die Bundesregierung ein Museum für Deutsche Geschichte eröffnen wollte. Und das paßte sehr vielen, insbesondere vielen Linken nicht, die befürchteten, dadurch würde die deutsche Geschichte in ein zu positives Licht gestellt. Durch diesen politischen Hintergrund bekam die ganze Sache eine aktuelle Brisanz, die ein Artikel eines einzelnen Historikers nicht hätte haben können." (JF)


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