© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 23/06 02. Juni 2006

Pankraz,
Prof. Higgins und das Ende der Tragödie

Henrik Ibsen und George Bernard Shaw, die beiden großen Gesellschaftsdramatiker der belle époque, haben 2006 "runde" Gedenktage (Ibsen 100. Todestag, Shaw 150. Geburtstag) - gute Gelegenheit, einmal über die bisher fast unerörterte geistige Verwandtschaft der beiden und ihre Folgen eine Anmerkung zu riskieren.

Das dramaturgische Leitbild für beide war die "Lebenslüge", welche gewissermaßen die "Schuld" in den klassischen Tragödien ersetzen sollte. Ibsen, der Ältere (geboren 1828), hatte das Wort erfunden. Er verstand darunter ein frühkindliches oder innerfamiliäres, oft durch Generationen mitgeschlepptes Trauma, ein tiefgreifendes, die Seelen verwundendes Erlebnis, das zur Zeit seines Stattfindens verdrängt worden war und nun in dem Schauspiel herumrumorte und zu tragischen oder pseudo-tragischen, manchmal auch ausgesprochen tragikomischen Konflikten führte.

Dieses Ibsensche Konzept der "Lebenslüge" und ihrer Auflösung gedieh mit fortschreitendem gesellschaftlichen Erfolg der Psychoanalyse geradezu zu dem Konfliktmodell neuzeitlicher Dramatik, besonders in Amerika. Autoren wie Eugene O'Neill oder Tennessee Williams verdankten ihren Ruhm faktisch ausschließlich dem Umstand, daß sie Ibsen, psychoanalytisch weiter ausdifferenziert oder auch regelrecht aufgepeppt, in ihren Stücken nachahmten.

Ausdrücklich auf Ibsen berief sich Shaw, der ja, bevor er anfing, Stücke zu schreiben, jahrelang Theaterkritiker gewesen war und in dieser Zeit auch eine dramaturgische Programmschrift veröffentlichte: "The Quintessence of Ibsenism" (London 1891). Eine Zeitlang war er nach eigenem Bekenntnis "eingefleischter Ibsenianer". Wie einst Racine stellte Shaw seinen Stücken umfangreiche Einleitungen voran (von denen Karl Kraus gesagt hat, sie seien nicht nur das Beste, sondern das einzig Erträgliche an den Shawschen Stücken), und darin bekannte er sich ausdrücklich zum Konzept der "Lebenslüge", allerdings in einer recht unpsychologischen, dafür um so originelleren Weise.

Die Lebenslüge, verkündete er, muß im allgemeinen gar nicht extra hervorgezogen werden, sie liegt meist völlig offen zutage und ist denen, die in ihr stehen, auch durchaus bewußt. Sie ist eine Maske im Sinne der Commedia dell'arte, verbirgt also nicht eigentlich, sondern entbirgt, indem sie die Lebenslüge ihres Trägers mit wenigen groben, typisierenden Zügen grell herausstellt. Und diese Maske ist im wesentlichen eine Sprachmaske, d.h. ihr Träger zeigt sie vor, indem er spricht, indem er den Jargon seiner Klasse oder seines Standes oder seiner sonstigen Lebenssituation preisgibt und damit den anderen mehr oder weniger auf die Nerven fällt.

In den Stücken von Shaw (und übrigens hier und da schon bei Ibsen) kreuzen die Protagonisten sprachlich die Klingen, und gesiegt hat am Ende nicht unbedingt, wer die besseren Argumente hat, sondern wer den flotteren Witz, die reichere Metaphorik, die umwerfenderen Paradoxe hat. Shaw war gewissermaßen der Wittgenstein des Theaters; Gilbert K. Chesterton hat das in einem Aufsatz aus dem Jahre 1913 avant la lettre sehr schön analysiert.

Chesterton beschäftigt sich da mit dem ein Jahr zuvor uraufgeführten Shaw-Stück "Pygmalion", aus dem später das weltberühmte Musical "My Fair Lady" geworden ist. Es handelt sich bekanntlich um nichts weiter als um die Dramatisierung jener antiken Geschichte, wo ein Bildhauer, Pygmalion eben, sich in eine von ihm selbst geschaffene Mädchenstatue verliebt und so lange die Götter, insbesondere Aphrodite, anfleht, die Statue zum Leben zu erwecken, bis das dann auch wirklich geschieht. Was macht Shaw aus diesem Stoff? Eine rein semantische Angelegenheit.

Der Sprachprofessor Higgins liest das Marktmädchen Eliza auf, das nur übelsten Gossenjargon sprechen kann, und nimmt sie in Sprachunterricht, und indem Eliza sich allmählich die Codes der professoralen Hochsprache aneignet, wird sie nicht nur eine große Dame, sondern gewinnt auch die Liebe ihres Sprachmeisters. Professor Higgins hat gar keine Götter nötig, um Eliza zum Leben zu erwecken, sondern indem er sie erschafft, erweckt er sie auch, und erst damit erweckt er auch seine Liebe. Erschaffung, Verlebendigung und Liebe sind dasselbe, ihr gemeinsamer Nenner ist die Sprache, genauer: das souveräne Sprachspiel; und das, sagt Chesterton, sei das Geheimnis der Shawschen Dramatik insgesamt.

Sie sei (oder peile an) agonales Sprechen. Ihre Dialektik, manchmal auch ihre Tragik, ergebe sich aus dem Kampf mit der Sprache, dem Zerbrechen der je eigenen Sprachmaske, wobei man - siehe Eliza - zu Höhen der Liebe aufsteigen kann, wobei man aber auch vollkommen scheitern und in Vereinsamung und Tod getrieben werden kann. Eine interessante, hochmoderne Dramaturgie!

Dennoch, so recht wollte sie sich nicht für tragische Konflikte eignen, wovon nicht zuletzt Shaws eigene Stücke zeugen. Die Theater blieben lieber bei Ibsen. Auf der Shawschen Linie gab es bald nur noch Komödien, sogenannte "Salonkomödien", wie sie etwa Noel Coward oder Somerset Maugham schrieben; in Deutschland standen für diese Art Kurt Goetz oder auch Walter Hasenclever.

Die Tragödie nach Ibsen indessen erhob sich nie mehr zu klassischen Höhen. Es gab Versuche, direkt an die gewaltige Tradition von Sophokles, Shakespeare und Schiller anzuknüpfen; man denke an Gerhart Hauptmanns Atriden-Tetralogie. Doch nicht Hauptmann übernahm die Fackel von den alten Tragikern, sondern Richard Wagner mit seinen tragischen Gesamtkunstwerken, die nun freilich eindeutig von der Musik dominiert waren. Die Musik hatte über das Wort gesiegt.

Nicht nur Shaw (gestorben 1950), auch Ibsen hat das noch erlebt, und er hat - wie Shaw - sein Scheitern als Tragiker des Wortes mit Bitterkeit erspürt. Sein letztes Drama, "Wenn wir Toten erwachen", legt beredt davon Zeugnis ab.


Versenden
  Ausdrucken Probeabo bestellen