© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 24/06 09. Juni 2006

Machtkampf in Ankara
Türkei: Die Spannungen zwischen den laizistisch-säkularen und den islamistischen Kräften wachsen
Günther Deschner

Ein Attentat auf die höchsten Verwaltungsrichter in Ankara - ein Richter starb, vier weitere wurden verletzt - hat im Mai ein grelles Schlaglicht auf den inneren Zustand der Türkei geworfen. Die Richter hatten vor kurzem das in der Türkei geltende Kopftuchverbot für Staatsbeamtinnen zementiert und verschärft, und der Attentäter - ein Parteigänger der Islamisten - wollte sie dafür "bestrafen".

Der Mord hat sichtbar gemacht, wie groß die inneren Verwerfungen, die Spannungen zwischen den laizistisch-säkularen und den islamistisch-religiösen Kräften, aber auch die Interessengegensätze zwischen der verkrusteten "Alten Garde" und allen "Neuerern" in Politik und Gesellschaft der Türkei tatsächlich sind - und daß sie zunehmen.

Zehntausende demonstrierten gegen das Attentat und warfen der Regierung vor, durch ihre islamistische und gleichzeitig reformerische Politik ein Klima geschaffen zu haben, das solche Gewalttaten begünstigt. Oppositionsführer Deniz Baykal von der linksnationalen Republikanischen Volkspartei (CHP) forderte vorgezogene Neuwahlen, fast eineinhalb Jahre vor dem regulären Termin im November 2007.

Ein immer tieferer Riß geht durch die Türkei

Präsident Ahmet Necdet Sezer, ein erbitterter Feind von Recep Tayyip Erdoğan, erneuerte seine Kritik am islamistischen Regierungschef. Zu allem Überfluß meldete sich auch die Armee zu Wort, die seit Kemal Atatürks Zeiten die eigentliche Macht im Land besitzt und keine Lust hat, etwas davon abzugeben. Der Generalstabschef der türkischen Armee, Hilmi Özkök, forderte die Gegner der islamistischen Regierungspartei AKP zur Ausweitung der Demonstrationen auf.

Die Vorgänge illustrieren, daß der schon lange schwelende Machtkampf zwischen der Erdoğan-Regierung und den Kräften des säkularen republikanisch-nationalistischen Establishment in Armee, Justiz und Verwaltung auf einen Höhepunkt zutreibt. Es geht nicht nur um politisch-ideologische Gegensätze, sondern zumindest gleichrangig um die Verteilung der realen Macht. Schon machen Putschgerüchte die Runde, und viele glauben, die türkische Republik bewege sich mit großen Schritten auf ihre "Sollbruchstelle" zu - mit entsprechenden Folgen für den inneren Frieden, für die Stabilität des Landes und die angestrebte EU-Mitgliedschaft.

Als im Herbst 2002 Erdoğans "Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung" bei den Parlamentswahlen - dank Zehn-Prozent-Hürde und mit nicht mal 40 Prozent - mit 363 von 550 Sitzen einen erdrutschartigen Sieg errang, der eine Einparteienregierung ermöglichte, hatte alles noch ganz anders ausgesehen. Die AKP galt als "gemäßigt" islamistisch, aber viele Wähler hatte Erdoğan auch deswegen gewonnen, weil er den Kampf gegen Korruption, Toleranz und Menschenrechte predigte. Seine Gegner kritisierten damals, er habe seine islamistischen Grundüberzeugungen nicht abgelegt und täusche den bürgerlichen Demokraten nur vor. Doch die Kritik wurde leiser, je mehr Erdoğan lang anstehende Reformen anpackte und die Türkei bis an die Schwelle der Mitgliedschaft in der EU führte - bis dahin ein Kernthema der Säkularisten, seiner politischen Gegner!

Auch in anderen Feldern der erstarrten türkischen Politik trat der heute 52jährige als Reformer auf: Er versuchte, den Würgegriff des türkischen Militärs auf die Politik zu lockern, brachte der kurdischen Minderheit im Südosten des Landes die ersten Ansätze kultureller Rechte und begann das bis dahin quasi-totalitäre Justizsystem zu reformieren.

Vor einem halben Jahr noch brachte er die nationalistischen Militärs zur Weißglut, als er der Öffnung türkischer Häfen und Flughäfen für Schiffe und Flugzeuge des griechischen Zypern zustimmte, wie es die EU als eine der Voraussetzungen für den Beginn der Beitrittsverhandlungen verlangt hatte.

Doch heute, so formulierte es dieser Tage ein westlicher Korrespondent in Ankara, "klingt Erdoğan mehr und mehr wie einer aus der reaktionären alten Machtclique, die zu stürzen er doch eigentlich angetreten war". Er hält plötzlich Drohreden gegen die kurdischen Staatsbürger der Türkei und stellt sich taub gegenüber Brüssel, das nun die Einlösung der Zypern betreffenden Zusagen verlangt.

Innenpolitisch haben Erdoğan und seine AKP ruckartige Kehrwendungen in Richtung des altmodischen türkischen Nationalismus vollzogen. Nach Einschätzung von Türkeikennern hat das - wie so häufig in parlamentarischen Demokratien - nicht unbedingt etwas mit politischen Überzeugungen oder inhaltlich-sachlichen Erwägungen zu tun, sondern damit, daß Wahlen heraufziehen - bald oder spätestens im Herbst 2007 - und daß sich die politische Stimmung in der Türkei deutlich verändert hat.

Zumindest bei den 4,5 Millionen Jungwählern scheinen lang gepflegte amerika- und europafreundliche Einstellungen in Kritik an der US-Politik in der Region und an der Bevormundung durch die EU umzuschlagen. Mindestens 20 Prozent dieser Wählergruppe wollen Umfragen zufolge das nächste Mal die ultrarechte Partei der Nationalistischen Aktion (MHP) wählen. Laut derselben Umfrage ist bei Wählern aller Altersgruppen auch die Zustimmung zur EU dramatisch eingebrochen - auf 50 Prozent von 75 noch vor einem Jahr. Diese Wähler will Premier Erdoğan wiedergewinnen.

Treffen mit Hamas-Führer und dem Außenminister Irans

Seine Strategie des Machterhalts findet ihre außenpolitische Entsprechung in allerhand Verbeugungen vor der USA-kritischen islamischen Welt: Schon im März hielt Erdoğan auf der Konferenz der Arabischen Liga in Khartum eine entsprechende Grundsatzrede, sein Außenminister Abdullah Gül empfing den Hamas-Führer Chalid Maschaal und den iranischen Außenminister Manutschehr Mottaki zu politischen Gesprächen.

All diese Aktivitäten können durchaus dazu beitragen, daß Segmente aus Erdoğans Wählerklientel, die verloren zu gehen drohen, bei Laune gehalten werden. Außenpolitisch fügen sie sich sogar gut in sein Konzept von "Zusammenarbeit mit den Nachbarn in der Region" ein. Nichts spricht bislang auch dafür, daß er seine Politik zur Modernisierung der Türkei und sein Ziel der Mitgliedschaft in der EU tatsächlich aufgegeben hat. Darin läge für Erdoğan und seine islamistische "Gerechtigkeitspartei" ja auch der beste Schutz vor harten Schlägen der ihre Machtstellung und ihre Vision der Türkei verteidigenden Militärs.

Aber es ist ein gefährliches Spiel, das da im Gange ist, und sein Ausgang ist alles andere als gewiß.

Foto: Präsident Sezer unter Atatürk-Relief: Ein gefährliches Spiel


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