© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 24/06 09. Juni 2006

Vertauschte Rollen
Kurios: Der "Spiegel" interviewt Ahmadinedschad
Andreas Wild

Was ist ein Interview? Ein Interview ist eine Veranstaltung, bei der Journalisten Fragen stellen und der Interviewte Antworten gibt. Bei dem "Interview", das der Spiegel vorige Woche in Teheran mit dem iranischen Präsidenten Mahmud Ahmadinedschad veranstaltete, ging es genau andersherum: der "Interviewte" fragte, und die "Interviewer" antworteten. Und wie sie antworteten!

Es ging unter anderem um die deutschen Strafgesetze gegen Holocaust-Leugner bzw. -Verharmloser. Der Präsident fragt kühl, warum man so etwas hinnehme, es behindere doch die Forschung, schließlich sei bei anderen historischen Ereignissen die Forschung auch freigegeben. Aber da brausen die Spiegel-Leute, darunter Chefredakteur Stefan Aust, richtig auf. Ihre Worte überstürzen sich. Aber nein, versichern sie gleich mehrfach, es sei doch bereits alles erforscht, jetzt gehe es nur noch darum, daß die Deutschen sich "kritisch mit ihrer Vergangenheit auseinandersetzen" usw. usw.

Gelassen hält der iranische Staatschef dagegen, allein die Tatsache, daß seine Äußerungen zum Holocaust zu heftigen Protesten geführt haben und er mit "gewissen Personen in der deutschen Geschichte" verglichen werde, deute darauf hin, "wie konfliktgeladen in Ihrem Land die Atmosphäre für Forscher ist".

"Ich wundere mich", sagt Ahmadinedschad an anderer Stelle mit Blick auf die Atompläne des Irans an die Adresse der "Interviewer", "warum Sie die Position der europäischen Politiker einnehmen und fanatisch verteidigen. Sie sind ein Magazin und keine Regierung."

Und wieder brausen die Spiegel-Leute auf. "Nein", rufen sie, "die richtige Logik ist das nicht ... Die Deutschen fühlen sich nicht seit 1945 erniedrigt und entwürdigt. Dafür sind wir zu selbstbewußt." Es ist eine tolle Komiknummer. So etwas hat es in der deutschen Pressegeschichte noch nicht gegeben.

Rudolf Augstein, der Spiegel-Gründer, dreht sich zur Zeit wahrscheinlich im Grabe um. Er mag seine Schwächen gehabt haben, aber über die Grundlagen des Journalistenberufs wußte er doch recht gut Bescheid. Von seinen Nachfolgern kann man ähnliches nicht sagen.


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