© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 24/06 09. Juni 2006

Der Wohlstand der Enkel wird verfrühstückt
Kurt Biedenkopfs Plädoyer für eine generationengerechte Politik bleibt leider im Theoretischen stecken
Ellen Kositza

Wer das Wort "Ausbeutung" im Buchtitel führt, läßt eine geballte Abrechnung vermuten. Hier wird der Radikalitätsverdacht sogleich zweifach ausgebremst, einmal durch den mäßigenden Untertitel, der ein "Plädoyer für die Rückkehr zur Vernunft" verheißt, zum anderen durch das Bürge des Autorennamen selbst: Kurt Biedenkopf hätte nicht über ein Jahrzehnt als sächsischer Ministerpräsident den Prototyp des Landesvaters abgeben können, wenn er nun zu wahrhaft umstürzlerischem Handeln aufriefe. Gleichwohl ist es Biedenkopf ernst mit seinem Vorwurf der "Enkel-ausbeutung". Über den biologischen Faktor des anzuprangernden Tatbestands haben andere geschrieben; Biedenkopf setzt eine Kenntnis der demographischen Sachlage voraus und spart sich Details dazu weitgehend.

Wer den ehemaligen Ordinarius und Staatsmann a.D. fragt, warum er mit seinen 76 Jahren noch arbeite - als Buchautor, Redner und Vorsitzender der Hertie School of Governance -, erhält einen Fingerzeig auf ein Foto, das im Dresdner Büro Biedenkopfs hängt. Es zeigt zwölf Erwachsene und zehn Kinder: seine Enkel und ihre Eltern. Der Enkel wegen, sagt Biedenkopf, und daß er nicht möchte, "daß sie eines Tages ihren Großvater in Haft nehmen für Entwicklungen, die sie unlösbaren Konflikten aussetzen".

Zu lange schon hätten die Alten auf Kosten der nächsten Generation gelebt und Familie wie Staat zu passiven Konsumgemeinschaften werden lassen, hätten dazu beigetragen, daß sich der Bürger in einer vormundschaftlichen Scheinsicherheit eingerichtet habe - auf Kosten der persönlichen Freiheit. In dreierlei Hinsicht gelte es nun, stattgefundenen und weiterhin wirksamen staatlichen Entgrenzungen Einhalt zu gebieten: der Entgrenzung der Sozialpolitik, der des Wachstums und jener der Märkte.

Biedenkopfs Hauptkritik gilt dem heutigen "Sozialstaat, der nicht die Armen wesentlich im Fokus hat, sondern neunzig Prozent der Bevölkerung". Die Organe des Sozialstaates hätten sich verselbständigt, in weiten Teilen des Volkes Abhängigkeiten erworben und Macht begründet. Durch diesen Tausch von vermeintlicher Sicherheit gegen Eigenverantwortung sei der Bürger zum Sozialmündel geworden. Als ursächlich für die grassierende Umverteilungsmisere sieht CDU-Urgestein Biedenkopf die Düsseldorfer Leitsätze von 1949 an, die dereinst das sozialpolitische Programm der Union begründeten und Wirtschafts- und Sozialpolitik miteinander verflochten. Biedenkopf hält Marktwirtschaft und Sozialpolitik für inkompatibel und verweist auf jene professorale Rothenfelser Denkschrift, die 1955 als Alternativprogramm eingereicht wurde und noch heute ihrer Befolgung harrt: Hierin wird Sozialhilfe - deren Kosten für den Staat bald tatsächlich ausufern sollten - als Hilfe zur Selbsthilfe verstanden, als "soziale Investition, nicht Restribution". Heute dagegen sei "der Sozialuntertan, den Ludwig Erhard vorausgesehen hatte, Wirklichkeit geworden".

Für einen weiteren folgenschweren Fehler hält Biedenkopf die Entscheidung, in den späten Sechzigern "Wachstum" als eigenständige politische Zielkategorie zu fassen - ein für ihn unverzeihliches Versagen, der sich heute mit dem bekannten Kreislauf von staatlich subventioniertem Wirtschaftswachstum hin zur steigenden Staatsverschuldung auf europäischer Ebene wiederhole. Als dritte Sünde der Großelterngeneration nennt er die Entgrenzung der Märkte (Stichwort: Globalisierung), und allein hier schleicht sich in Biedenkopfs kenntnisreiches, konkret argumentierendes Buch gelegentlich der uninspirierte Duktus der Politikerrede und ein gewisser Predigerton ein, welcher der konzentrierten Lektüre abträglich ist, die das Buch einfordert.

Biedenkopf rechnet schließlich vor, wie sich der Anteil der Schuldenlast am Bruttoinlandsprodukt von zwanzig Prozent 1970 hin zu rund siebzig Prozent 2006 gesteigert hat: Für die Gestaltung der Zukunft fehlen uns bei einer Pro-Kopf-Verschuldung von 18.200 Euro schlicht die Mittel. Die Alten seien daher schlecht beraten, länger auf die gängige Rente zu pochen und die Kosten für die heranwachsende Generation weiterhin zu privatisieren. Biedenkopf: "Mit dem Werbespruch 'Travel now, pay later' lockte vor Jahren ein amerikanisches Reisebüro seine Kunden an. Wir haben uns auf die Verlockung eingelassen. Jetzt rufen uns die Enkel zu: 'You travelled, now pay!'"

Es hieß, Biedenkopf wolle sich als Einflüsterer der Regierung Merkel verstanden wissen. Geflüster? In solcher Lautstärke läßt sich offenkundig nichts bewirken. Im Gegenteil: "Laßt uns mehr Freiheit wagen!", jener Aufruf der Kanzlerin anläßlich ihrer Regierungserklärung, den Biedenkopf seinem Buch vorangestellt hat, wirkt schon ein Dreivierteljahr später als blanker Witz.


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