© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 25/06 16. Juni 2006

Die gescheiterte Aufarbeitung
Die Vorstöße zur Errichtung einer deutschen Zentralstelle zur Erfassung von Vertreibungsverbrechen 1964 bis 1966
Dag Krienen

Es gibt Anzeichen, daß in den Vierteljahrsheften für Zeitgeschichte (VfZ) die Herrschaft des Zeitgeistes nicht mehr allgewaltig ist. Von einer vollständigen Emanzipation des vom Münchener Institut für Zeitgeschichte herausgegebenen Organs zu sprechen, wäre angesichts der Masse der weiterhin meist zeitgeistkonformen Beiträge zweifellos unangebracht (JF 19/06). Aber immer öfter findet man Ausreißer wie beispielsweise Bogdan Musials "kritische Anmerkungen zur Wehrmachtsausstellung" (VfZ 4/1999) und Manfred Zeidlers Darstellung des Minsker Kriegsverbrecherprozesses (VfZ 2/2004).

Dazu zählt auch der im letzten Aprilheft (VfZ 2/2006) erschienene Bericht Manfred Kittels über das Scheitern der von 1964 bis 1966 unternommenen Vorstöße zur Einrichtung einer deutschen Zentralstelle zur Erfassung von Vertreibungsverbrechen. Vorbilder waren die damals schon bestehenden Zentralstellen zur Erfassung von NS-Verbrechen in Ludwigsburg und von SBZ/DDR-Verbrechen in Salzgitter.

Von Anfang an Bedenken gegen eine Zentralstelle

Bereits anläßlich der Schaffung der Ludwigsburger Zentralstelle im Herbst 1958 war im bayerischen Landtag angeregt worden, diese Einrichtung auch zur Verfolgung von im Zuge von Vertreibung und Kriegsgefangenschaft von Deutschen an Deutschen begangenen Straftaten zu nutzen, doch war die Initiative in der Bundesjustizministerkonferenz gescheitert. Ende 1964 griff zunächst die Schlesische Landsmannschaft die Forderung nach Einrichtung einer zentralen Sammelstelle der deutschen Justiz zur Registrierung von Vertreibungsverbrechen wieder auf und fand dafür Unterstützung nicht nur bei ihren Schwesterorganisationen.

Wie Kittel zeigt, gab es für die Anliegen der Vertriebenen bis zur Mitte der 1960er Jahre bei allen großen Bundestagsparteien noch einen gewissen Resonanzboden. Deren Interessen und Stimmungslagen glaubten die politischen Eliten nicht einfach ignorieren zu dürfen. Besonders in der CSU und FDP, wo man hoffte, ihre zerfallenden politischen Organisationen beerben zu können, fanden so die Bestrebungen nach einer zentralisierten Erfassung der Vertreibungsverbrechen einige Unterstützung. Bei CDU und SPD hingegen verlautbarte man zwar Verständnis für die Vertriebenen, vermied aber letztendlich ein Eingehen auf ihre konkreten Anliegen, bei der CDU zunächst aus Rücksicht auf die Westalliierten, bei der SPD auf die NS-Opfer unter ihren Anhängern.

Tatsächlich aber erfolgten, wie Kittel unterstreicht, die Vorstöße von 1964 und 1965 zu spät, um noch Aussichten auf Erfolg haben zu können. Zudem waren sie von Anfang an eng verbunden mit der Debatte um die Verjährung von NS-Verbrechen, die gemäß damaliger Rechtslage nach zwanzig Jahren, also 1965, eingetreten wäre. Wurde diese 1965 zunächst durch einen Kompromiß vertagt (Beginn der Verjährungsfrist erst ab 1949), war das Anliegen der Vertriebenen, noch rechtzeitig die an ihnen begangenen Verbrechen zentral zu erfassen, durch diesen Nexus entscheidend belastet. Denn es geriet damit in den Bannkreis des in der "veröffentlichten Meinung" des Landes allmählich durchgesetzten "Verbots des Aufrechnens".

Ohne Rückhalt in der großen Presse hatten die Vorstöße der Vertriebenen und einzelner Parteivertreter aber keine Chance zur politischen Durchsetzung, zumal auf der zentralen politischen Entscheidungsebene die Anliegen der Vertriebenen zunehmend als Belastung bei der Neuorientierung der deutschen Außenpolitik empfunden wurden. Bereits lang vor Abschluß der Ostverträge galt hier das Kapitel "deutscher Osten" als "faktisch abgeschlossen, und auch die Aufklärung von Verbrechen, die seinen Untergang begleitet hatten, schien es nicht wert, anderen, vordringlicher wirkenden politischen Zielen übergeordnet zu werden". In den einschlägigen interministeriellen Konferenzen war die Idee einer Zentralstelle zur Erfassung von Vertreibungsverbrechen von Anfang an auf Bedenken gestoßen. Am Ende wurde auf der Ministerkonferenz im Oktober 1966 auch der Vorstoß des bayerischen Justizministeriums abgelehnt, zumindest einige Staatsanwaltschaften auf bestimmte Vertreibungsregionen zu spezialisieren. Das gesamte Anliegen wurde schließlich 1969 "mittels einer Ersatzlösung gleichsam zweiter Klasse beerdigt", der Beauftragung des Bundesarchivs mit der Erstellung einer Dokumentation über "Vertreibung und Vertreibungsverbrechen 1945-1948", deren Publikation 1974 dann auch noch per Kabinettsbeschluß untersagt wurde.

Historiker schuldig an Ghettoisierung Vertriebener

Manfred Kittel analysiert aber nicht nur die Ursachen für das Scheiten der Versuche zur Aufarbeitung der Vertreibungsverbrechen, sondern bezeichnet dieses Scheitern auch offen als Skandal, als "schwere und irreparable Verletzung der Rechtskultur", die von ihm als ein Kollateralschaden der Entspannungspolitik, vor allem aber des seit den sechziger Jahren in der Öffentlichkeit durchgesetzten "Aufrechnungsverbotes" geschildert wird. Dabei bezweifelt er nicht Karl Jaspers "im Kern richtige" These, daß ein radikaler qualitativer Unterschied zwischen dem NS-Genozid an Juden und Zigeunern als "Verbrechen gegen die Menschheit" und den Vertreibungsverbrechen an Deutschen als schlimmen, aber nicht außergewöhnlichen Kriegsverbrechen bestehe. Nur hat diese These nach seiner Ansicht aufgrund ihre "gesellschaftliche Reichweite (...) realiter oft auch zur Relativierung von Vertreibungsverbrechen" beigetragen.

Kittel läßt wenig Zweifel daran, daß die Feststellung von Rex Rexhäuser zutrifft, daß in der Folge die deutschen Historiker und Publizisten mitschuldig geworden seien an der "Ghettoisierung der Vertriebenen" in der deutschen Erinnerungskultur. Sein Aufsatz schließt mit dem Plädoyer: "Wenn schon das Gros der Vertreibungsverbrechen juristisch ungesühnt geblieben und eine Zentralstelle nie zustande gekommen ist, sollte zumindest das Mögliche getan werden, um den Opfern einen angemessenen Platz in unserem kollektiven Gedächtnis einzuräumen." Ob eine solche eindeutige Stellungnahme in den Vierteljahrsheften für Zeitgeschichte auch auf politischer Ebene angemessen zur Kenntnis genommen wird, bleibt abzuwarten.

Foto: Deutschland-Kundgebung des Bundes der Vertriebenen auf dem Bonner Marktplatz, Mai 1966: Bereits lange vor Abschluß der Ostverträge galt das Kapitel "deutscher Osten" als faktisch abgeschlossen


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