© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 26/06 23. Juni 2006

BRIEF AUS BRÜSSEL
Keine Lust auf Europa
Andreas Mölzer

Beim EU-Gipfel in Brüssel konnten sich die europäischen Staats- und Regierungschefs nicht auf eine Verschärfung der Aufnahmekriterien einigen. Eine Begrenzung der finanziellen Belastung der Nettozahler wird bei der Aufnahme neuer EU-Mitglieder ebensowenig Berücksichtigung finden wie der Wille der Bürger, die der Erweiterung skeptisch bis ablehnend gegenüberstehen. Damit bleiben die Tore weiterhin sperrangelweit offen für jene Länder, die so rasch wie möglich zu den Brüsseler Fördertöpfen gelangen möchten.

Die EU will Rumänien und Bulgarien - ungeachtet von Problemen wie Korruption und organisiertem Verbrechen - 2007 als neue Mitglieder begrüßen. Die in Verträgen festgeschriebene Möglichkeit, deren Beitritt um ein Jahr zu verschieben, erweist sich als eine weitere Beruhigungspille für die zu Recht besorgten Bürger. Während Rumänen und Bulgaren trotz ihrer mannigfaltigen Probleme zweifelsohne Teil der europäischen Völkerfamilie sind, soll auch die Türkei im Eilzugstempo EU-Mitglied werden. Die "europäischen Werte" werden, wenn es um die Aufnahme Ankaras geht, zu inhaltsleeren Phrasen. Daß in der Türkei die Meinungsfreiheit nur auf geduldigem Papier besteht, spielt ebensowenig eine Rolle wie die offene Diskriminierung religiöser und ethnischer Minderheiten wie Christen und Kurden.

Nachdem Ankara mit Drohungen gegenüber Brüssel sein vorläufiges Ziel, die Eröffnung der ersten Verhandlungskapitel, erreicht hat, liefern aktuelle Meinungsumfragen zweier türkischer Universitäten den schlagenden Beweis dafür, wie weit dieses islamische Land mentalitätsmäßig von Europa entfernt ist. Denn 40 Prozent der Befragten meinen, eine Militärregierung sei besser als eine demokratisch gewählte, 65 Prozent sprachen sich dagegen aus, ihre Tochter einem Nichtmoslem zur Frau zu geben, rund ebenso viele sind für eine Kopftuch-Pflicht für Studentinnen bzw. wollen missionarische Tätigkeiten nichtislamischer Religionen einschränken. Ein knappes Zehntel befürwortet sogar die Einführung der Scharia, des islamischen Rechts.

Die Umfragen veranschaulichen eindrucksvoll, wie wenig Bereitschaft zu einer Haltungsänderung in der türkischen Bevölkerung besteht. Während die Regierung von Premier Recep Tayyip Erdoğan schon heute gegen mögliche Einschränkungen der Personenfreizügigkeit im Falle eines EU-Beitritts wettert und somit das Recht auf Auswanderung nach Europa als selbstverständlich für sich in Anspruch nimmt, wollen die Türken möglichst unter sich bleiben. So fanden 42 Prozent der Befragten, der Tourismus - immerhin eine der wichtigsten Einnahmequellen des Landes - bedrohe ihre Moral. Doch der wichtigste Punkt ist: Die Zustimmung zum EU-Beitritt befindet sich in der islamischen Türkei im Sinkflug. Wollten vor vier Jahren noch drei Viertel der Türken der EU beitreten, so ist es heute nur noch knapp mehr als die Hälfte.

Vor allem aber aus einem Detailergebnis der Umfrage sollte die EU die richtigen Schlüsse ziehen und die Beitrittsverhandlungen abbrechen. Wenn nämlich 56 Prozent der Türken der Auffassung sind, daß die Türkei ihre Probleme selbst besser lösen könnte, dann sollte Brüssel dem nicht entgegenstehen.

 

Andreas Mölzer ist Chefredakteur der Wiener Wochenzeitung "Zur Zeit" und seit 2004 FPÖ-Europaabgeordneter.


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