© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 26/06 23. Juni 2006

Pankraz,
P. Bertaux und der Zug der Urbaniden

Ein hübscher Neologismus läuft in der Wohnungs-Soziologie um: der "Urbanide". "-Iden" sind -Artige, Hominiden zum Beispiel Menschenartige, Asteroiden Sternenartige usw. Ein -Ide ist ein Artgenosse, der dazugehört und doch auch wieder nicht ganz dazugehört. Australopithecus etwa, der sensationelle Urmensch, dessen Überreste aus dem Inneren Afrikas bekannt sind, war ein typischer Hominide. Man kann ihm die Menschenartigkeit schon wegen seiner mit der unsrigen identischen DNA nicht absprechen, aber an ihm war doch auch - wie schon der Name sagt - noch viel Äffisches, so daß sich seine Verwandtschaft etwas geniert.

Das Besondere am Urbaniden ist, daß es für ihn kein Bezugswort gibt wie "Homo" (der Mensch) für den Hominiden. "Urban", also städtisch, stadtverbunden, kommt nur als Adjektiv vor; dem zugehörigen (lateinischen) Hauptwort, "urbanus", fehlt jegliche subjektive Färbung, jederlei Engagement, jeder Stolz. "Urbanus" meint einen zufälligen Stadtbewohner, der genauso auf dem flachen Land oder sonstwo leben könnte. Deshalb ist das Wort auch nie in die Nationalsprachen übernommen worden, weder ins Deutsche noch ins Englische noch ins Französische.

Das deutsche Grundwort zum Urbaniden ist der Städter, und zwar der überzeugte Städter, der nicht nur gern in der Stadt lebt, sondern sich gar nicht vorstellen kann, irgendwo anders zu leben, der die städtische Lebensweise komplett verinnerlicht hat und ohne sie seelisch verkümmern würde. Es geht ihm vorrangig nicht um die zivilisatorischen Annehmlichkeiten, die die Stadt für ihre Bewohner bereithält (die nimmt er wie selbstverständlich hin), was ihm wirklich behagt, sind gerade die Unannehmlichkeiten, das Quietschen der Straßenbahnen, das dumpfe Grollen aus den U-Bahnschächten, die geballten Massen im Berufsverkehr, der rapide, coole Umgangston.

Der ursprüngliche Widerpart zum überzeugten Städter war der Bauer bzw. der "Spießer" in den verschlafenen Landstädtchen, eine angeblich vorgestrige, umständliche Erscheinung, über die man sich lustig machen konnte. Der Gegensatz eskalierte im neunzehnten Jahrhundert, nahm kulturkämpferische Dimensionen an: "Asphaltliteratur" contra "Blut und Boden", "Dorftrottel" contra "Stehkragenproletarier". Später ebnete sich das wieder ein. Die Städte wuchsen ins flache Land hinaus und begrünten sich, die Dörfer übernahmen städtisch-technische Errungenschaften.

Der Urbanide nun ist das konsequente Gewächs aus diesen Vermischungen. Es geht bei ihm mehr städtisch als ländlich zu, aber eine selbstbewußte, gar sentimentale Beziehung zur Stadt als solcher hat er nicht mehr. Seine soziale Basis wie seine Sehnsucht ist das berühmt-berüchtigte Häuschen im Grünen, ausgestattet mit allem modernen Bewegungs- und Informationskomfort, mit guten S-Bahnanschlüssen, einem Shopping-Center um die Ecke und der nächsten Tankstelle in Sichtweite. Urbaniden nehmen lange, auch längste An- und Abfahrtszeiten zu ihrer Arbeitsstelle in Kauf, um diesen Standard zu halten, größte Unbequemlichkeiten im Grunde, doch sie sind es zufrieden.

Sie verbringen einen beträchtlichen Teil ihres Alltags fahrend im Auto oder im Omnibus bzw. in der S-Bahn, das prägt ihr Raum- und Zeitgefühl. Ein Orientierung gebendes räumliches Zenrum kennen sie kaum noch; deshalb verfallen unter ihrer Ägide nicht nur die Zentren der großen Städte, sondern auch die Ortskerne jener Dörfer und Landgemeinden, zu denen sie "hinausgezogen" sind. "Zentrum" gibt es für Urbaniden nur noch, sofern dort momentan etwas passiert. Es ist Bühne für mögliche Events, nichts weiter.

Am drastischsten hat sich die Herrschaft der Urbaniden bisher in den großen amerikanischen Metropolen abgebildet. Viele der ehemals prachtvollen Zentren dieser Metropolen sind in einer unglaublichen Weise heruntergekommen, wirken wie Elendsviertel und werden von sozialen Underdogs bewohnt. Die Wohnquartiere der Urbaniden indessen dehnen sich endlos ins Land hinaus und bilden gewaltige "Metropolitan Areas", die die eigentliche Stadt an Einwohnerzahl oft um ein Vielfaches übersteigen.

Ob es bei uns eines Tages zu ähnlichen Zuständen kommt, ist noch nicht entschieden. Der allgemeine Bevölkerungsschwund und der stetige Wegzug junger Leute in einige wenige "Boom"-Regionen hat auch hier vielen Zentren beträchtlich zugesetzt, Leerstände mitten in der Innenstadt breiten sich aus, wertvolle städtebauliche Substanz verfällt. Fast überall jedoch ist ein verbissener Widerstand gegen die verhängnisvolle Entwicklung wahrnehmbar, ein Widerstand, der manchmal geradezu verzweifelte Formen annimmt.

Ganze Straßenzüge erhalten immer wieder frischen Farbanstrich, historische Fassaden werden sorgfältig restauriert, alle möglichen kulturellen Veranstaltungen finden statt, um "die City wiederzubeleben". Die Deutschen, nach Auskunft des französischen Germanisten Pierre Bertaux "das geborene Volk der Städtegründer und Stadtenthusiasten", scheinen nicht gewillt, den Urbaniden kampflos das Feld zu überlassen.

Alle kommunalen Maßnahmen und künstlichen Beatmungen werden freilich vergeblich sein, wenn es nicht gelingt, unter den Urbaniden selbst einen gründlichen Stimmungswandel zu bewirken, sie gewissermaßen in überzeugte Urbanitäter zu verwandeln. Ob das gelingen kann? Ob dafür überhaupt die gesellschaftlichen Voraussetzungen gegeben sind?

Aus der großen Seestadt Leipzig immerhin kommen hoffnungsvolle Nachrichten. Professionelle Urbanisten registrieren dort seit neuestem einen spürbaren Zuzug vor allem junger Leute in die Innenstadt. Man spricht sogar schon von einer regelrechten Umkehr des Trends bei der Wohnungssuche: raus aus der vorstädtischen "Platte", raus aus dem Vorstadthäuschen, zurück ins historische Zentrum. Aus Urbaniden würden tatsächlich überzeugte Urbanitäter. Wer's glaubt, zahlt einen Taler.


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