© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 26/06 23. Juni 2006

Alle Zeichen deuteten auf Angriff
Vor 65 Jahren griff die deutsche Wehrmacht die Sowjetunion an / Die Rote Armee lag ihrerseits bereits in Offensivformation
Heinz Magenheimer

Daß der sowjetische Generalstab 1940/41 mindestens vier Aufmarschpläne mit überwiegend offensivem Charakter gegen Deutschland und seine Verbündeten entworfen hat, findet unter den Zeit- und Militärhistorikern weitgehend Akzeptanz. Auch daß der letzte Aufmarsch- und Angriffsplan, den Generalstabschef Schukov und Marschall Timoschenko am 15. Mai 1941 Stalin höchstpersönlich unterbreiteten, den dezidierten Willen zum Präventivkrieg enthielt, wird sowohl von russischen als auch deutschen Fachleuten mehrheitlich nicht in Abrede gestellt. Es wäre auch schlicht widersinnig, die eindeutigen Formulierungen zu leugnen, daß man den Deutschen im Aufmarsch zuvorkommen, die Initiative ergreifen und selbst einen Überraschungsschlag führen wolle. Viele Zeithistoriker - wie auch jüngst Bogdan Musial in der Zeitschrift für Geschichtswissenschaft (JF 13/06) - ziehen sich aber aus der Interpretationsklemme mit Hilfe der Behauptung, daß Stalin das Dokument zwar zur Kenntnis genommen, aber nicht gebilligt habe, des weiteren, daß die sowjetische Seite keinen Angriff geplant haben konnte, da die Armee im Sommer 1941 nicht zu einem solchen Angriff fähig gewesen sei.

Massive Präsenz offensiver Truppen der Roten Armee

Alle, die die Position einnehmen, setzen sich aber über diverse Fakten hinweg: Am Ende des Dokuments vom 15. Mai findet sich ausdrücklich das Ersuchen um Genehmigung der vorgesehenen Maßnahmen. Wie hätte Armeegeneral Schukov, der in der Folge nach diesem Plan handelte und den Aufmarsch lenkte, es wagen können, den Willen Stalins zu ignorieren? Hätte nicht Stalin, wenn er der Eigenmächtigkeit Schukovs und Timoschenkos auf die Spur gekommen wäre, beide sofort abgesetzt und strengstens bestraft? Zumindest hätte beiden der Gulag gedroht. Nichts dergleichen geschah.

Die detaillierten Aufmarschanweisungen an die vier westlichen Militärbezirke, die Schukov unmittelbar nach Kenntnisnahme des Aufmarschplanes durch Stalin erließ, enthalten die gleichen operativen Gedanken wie der Plan selbst. Es werden zwar die Stäbe der vier Militärbezirke auf die Sicherung der Grenze für die Zeit des laufenden Aufmarsches festgelegt, doch findet sich in ihnen viermal der Befehl, für weitreichende Angriffe auf das Gebiet des Gegners bereit zu sein.

Das Dokument vom 15. Mai hatte auch nichts mit einem Planspiel oder gar einem "Schubladenentwurf" zu tun. Für ein Planspiel hätte das Dokument anders gestaltet sein müssen, und es wäre auch viel zu schade gewesen, um in einer Schublade zu verschwinden. Niemand hätte es gewagt, Stalin bloß einen "Schubladenentwurf", der die höchste Geheimhaltungsstufe trug, zur Begutachtung vorzulegen. Hätten Schukov und seine engsten Mitarbeiter es andererseits riskiert, einen derart brisanten Aufmarschplan, der den Krieg mit Deutschland voraussetzte, als "Planspiel" zu titulieren?

Der Aufmarsch der Roten Armee trug auf militärstrategischer und operativer Ebene eindeutig Offensivcharakter und folgte somit dem Plan vom 15. Mai. Die Erste Strategische Staffel mit 170 Divisionen und zwei Brigaden marschierte mit Masse in Grenznähe auf und bildete vor allem in den vorspringenden Frontbögen von Bialystok und Lemberg riesige Konzentrationen von Panzer- und Kavalleriekräften. So standen an der späteren Westfront im Raum Grodno-Bialystok-Brest allein vier mechanisierte Korps mit einer durchschnittlichen Ausstattung von 500 Kampfpanzern (die planmäßige Stärke hätte 1.031 Panzer betragen sollen; die in der Roten Armee insgesamt vorhandenen 29 mechanisierten Korps hätten somit nach Beendigung der Ausrüstung über mehr als 30.000 Panzer verfügt). Ähnlich lagen die Verhältnisse im Raum Lemberg. Hinter den Konzentrationen in den Frontvorsprüngen lagen weitere mechanisierte und Schützenkorps tief gegliedert, um den operativen Schwerpunkt laufend zu verstärken. Diese Truppenmacht hätte zum Durchbruch an die obere Weichsel, zum Einschwenken nach Norden und gemeinsam mit der Westfront zur Einkesselung aller umgangenen und abgedrängten deutschen Kräfte führen sollen.

Des weiteren wurde der Aufmarsch der Zweiten Strategischen Staffel, die sieben Armeen mit etwa 73 Divisionen umfassen sollte, so geleitet, daß sie besonders im Südwestabschnitt das Schwergewicht aus der Tiefe nähren und ihm eine gewaltige Angriffswucht verleihen konnte. General Vatutin, der Stellvertreter Schukovs, nahm noch am 13. Juni eine Veränderung des Aufmarsches vor, die sogar eine Verstärkung des Schwergewichts in der Westukraine vorsah. Dort sollten mit Ende des Aufmarsches acht Armeen mit zwölf mechanisierten Korps und 97 Divisionen (einschließlich der Kräfte auf der Krim) bereitstehen, während zwei weitere Armeen (16., 19.) mit 23 Divisionen als Verstärkung hinzutraten. Ein Grund für den Eingriff Vatutins lag daran, daß er die Verzögerungen und Pannen berücksichtigte, die in der Zwischenzeit aufgetreten waren, und dafür vermehrt auf Truppen des Militärbezirks Moskau, etwa die 20. Armee, zurückgriff. Jedenfalls hätten die sowjetischen Truppen nach den Vorstellungen Vatutins im Südabschnitt die dreifache Überzahl gegenüber den deutschen erlangt.

Bei den Luftstreitkräften dominierte ebenfalls der Offensivgedanke. Ab Herbst 1940 hatte man die Start- und Landebahnen von 250 Flugplätzen im westlichen Grenzraum erweitert. Die Massierung von sowjetischen Luftstützpunkten fand besonders an der West- und Südwestfront statt. Allein an der Südwestfront sollten 13 Fliegerdivisionen mit 58 Kampfflieger-Regimentern, also mit etwa 3.500 Kampfflugzeugen, den Angriff des Heeres unterstützen, den Gegner im Hinterland bekämpfen und den Luftraum freihalten. Mindestens 142 Flugplätze lagen westlich der Linie Wilna-Kovel, von denen viele mit Bombern und Jagdflugzeugen überfüllt waren. Für einen Verteidigungskrieg hätte sich eine völlig andere Dislozierung aufgedrängt, da eine frontnahe Massierung gegnerische Luftangriffe geradezu herausforderte. Es ist jedoch einzuräumen, daß sich viele Fliegerregimenter in Umrüstung auf moderne Flugzeuge befanden und noch nicht die volle Kampfkraft besaßen - ein Umstand, der es nahegelegt hätte, auf eine frontnahe Stationierung zu verzichten.

2.200 sowjetische gegen 1.450 deutsche Panzer

Selbst der ungeschulte Betrachter erkennt bei Betrachtung des Aufmarsches zwischen der Ostsee und dem Schwarzen Meer, daß die Dislozierung der Roten Armee für eine strategische Verteidigung höchst ungeeignet war. Auch auf operativer Ebene, nämlich der "Fronten" und Armeen, war der Aufmarsch überwiegend offensiv ausgerichtet, denn die Masse der Kräfte, darunter viele mechanisierte Verbände, befand sich in Grenznähe an exponierten Stellen, die sich viel eher für den Angriff als für die Verteidigung anboten.

Der Einwand, daß zwar der Aufmarsch offensiven Charakter getragen, daß aber die Truppen einen defensiven Auftrag gehabt hätten, widerspricht einem militärischen Grundsatz: Ein offensiver Aufmarsch kann nicht zugleich auf Verteidigung ausgerichtet sein, will er nicht gravierende Nachteile in Kauf nehmen. Er lädt den Gegner in vorgeschobenen Abschnitten zu Umfassungsangriffen ein; auch die in Grenznähe gelagerten Versorgungsgüter würden zum Großteil verlorengehen. Selbst die Annahme, daß die grenznahen Truppen den ersten Stoß der Deutschen auffangen und dann zurückschlagen sollten, setzt eine andere Dislozierung der Truppen voraus, nämlich nur schwache Kräfte in Grenznähe und die Masse weit abgesetzt in günstigen Stellungen. Man kann von einer Truppe nicht verlangen, sich gleichzeitig auf Angriff und Verteidigung vorzubereiten.

Genausowenig leuchtet der groteske Einwand von General Jurij Gorkov ein: demnach habe der Generalstab "nur" einen Angriff auf einer Breite von 350 bis 400 Kilometer und "nur" bis zu einer Tiefe von 300 bis 350 Kilometer geplant, so daß dieses Konzept keinen "aggressiven Charakter" gehabt habe. Er verschweigt jedoch, daß sich dieser Umfassungsangriff der Südwestfront und von Teilen der Westfront immerhin gegen die Hauptkräfte des in den Bereitsstellungsräumen konzentrierten deutschen Ostheeres und deren rückwärtige Verbindungen richtete; dieser Angriff hätte bei geschickter Durchführung einen großen Sieg erringen können.

Die Verfechter einer Defensivorientierung der Roten Armee übersehen auch andere Indizien, vor allem die Tatsache, daß sich bereits seit Anfang Juni 1941 eine polnische Division in Aufstellung befand, die am 1. Juli einsatzbereit sein sollte und den Kern einer polnischen "Befreiungsarmee" bildete. Gleichzeitig befand sich eine finnische Division in Aufstellung, die ebenfalls eine "Befreiungsmission" hatte. Viele Verbände und höhere Stäbe erhielten neue Militärkarten, deren Bildausschnitt weit nach Westen über die Weichsel hinaus reichte. In manchen Karten waren Angriffspfeile verzeichnet, die auf Ziele tief auf deutschem Territorium zeigten. Alle diese Fakten deuten keineswegs darauf hin, daß sich die Rote Armee in mangelnder Kriegsbereitschaft befunden habe. Strategisch gesehen wurde sie deshalb durch den deutschen Angriff nicht überrascht.

Trotzdem bleibt die Frage zu beantworten, ob der politische und militärische Wille zum Angriff nachweisbar ist. Nicht nur die Aufmarschanweisung an die späteren Fronten, nicht nur die Vorbereitungen und der Aufmarsch selbst sprechen für diesen Willen. Es liegt auch der Text der vorletzten Aufmarschvariante vom 11. März 1941 vor, worin General Vassiljevskij, der Stellvertreter Vatutins, eindeutig formuliert, daß der Angriff am 12. Juni zu beginnen habe. Es trifft zu, daß Teile der Ersten Strategischen Staffel und zahlreiche Verbände der Zweiten Strategischen Staffel nicht über die volle personelle Stärke und Waffenausstattung verfügten und daß viele Verbände nach der Auffüllung durch Reservisten noch keine Kampfgemeinschaft bildeten. Manchen Verbänden fehlte es an Erfahrung im Umgang mit neuen Waffen. Dennoch zeigten die ersten Kämpfe nach dem Beginn des deutschen Angriffs vom 22. Juni 1941, daß zahlreiche Truppenteile geschickt Widerstand leisteten und auch verbissene Rückzugsgefechte lieferten. Selbst wenn man davon ausgeht, daß von den Kampfpanzern der Westfront zu Kriegsbeginn wahrscheinlich nur zwei Drittel (2.220 von 3.400) kampfbereit waren, so übertrafen diese bei weitem die Zahl der gegenüberstehen 1.450 deutschen Panzer.

Der Wille, den Aufmarsch im Frühsommer 1941 möglichst rasch voranzutreiben, kam auch darin zum Ausdruck, daß man keine Zeit aufwendete, um Unterkünfte für die aus allen Landesteilen heranrollenden Verstärkungen zu errichten, sondern diese in Baracken und Biwaks hausen ließ. Auch für die riesigen Munitionsmengen, die im Juni herantransportiert wurden, gab es zu wenig Depots, so daß man einen Großteil unter freiem Himmel lagerte. Das Vorrücken der Zweiten Strategischen Staffel, die mit der Masse noch ostwärts von Dnjepr und Düna stand, hätte nach vorsichtigen Berechnungen zwischen 15. und 20. Juli beendet sein können, was zur massiven Verstärkung der frontnahen Kräfte geführt hätte.

Zwei hochgerüstete Armeen standen sich gegenüber

Selbst wenn man davon ausgeht, daß Stalin und Schukov die Beendigung des Gesamtaufmarsches abwarten und keinen Angriff beginnen wollten, wäre eine derart gewaltige grenznahe Massierung von Kräften sehr bald aufgeklärt und als höchst alarmierend beurteilt worden. Selbst wenn die Wehrmacht am 22. Juni nicht angegriffen hätte, erscheint es unvorstellbar, daß zwei hochgerüstete Millionenarmeen in derartiger Entfaltung einander gegenübergestanden hätten, ohne daß eine früher oder später die Initiative ergriffen und einen Präventivschlag geführt hätte. Es bestand kein übergeordnetes Abschreckungsarsenal, und beide Parteien wußten um den Vorteil der Initiative. Schon aus dieser Sicht erscheint der Angriff der einen oder anderen Seite so gut wie unvermeidlich.

 

Dr. Heinz Magenheimer ist Militärhistoriker und lehrt an der Landesverteidigungsakademie Wien und an der Universität Salzburg. Zuletzt veröffentlichte er das Buch "Kriegsziele und Strategien der großen Mächte 1939-1945" (Osning-Verlag, Bonn 2006, gebunden, 231 Seiten, 27 Euro).

 

Foto: Massenproduktion von Automatikgewehren in einem Moskauer Rüstungsbetrieb, Frühjahr 1941: In sowjetischen Karten waren Angriffspfeile verzeichnet, die auf Ziele tief im deutschen Territorium zeigten


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