© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 26/06 23. Juni 2006

Der vergessene Schwarze Freitag
von Wilhelm Hankel

Der kürzliche Kurseinbruch an den führenden Weltbörsen von New York, Tokyo bis Frankfurt sieht die Experten ratlos und lehrt die Anleger das Fürchten. Droht nach den Übertreibungen der "dot.com"-Hausse der Neunziger Jahre ein weiteres Platzen der Blase? War das bißchen Erholung nach den Katastrophenjahren ab 2001 nur die Ruhe vor dem endgültigen Losbrechen des Sturmes?

Droht mit der jetzigen Krise der lange vorhergesagte Kollaps des Weltfinanzsystems in sein letztes und letales Stadium zu treten - jenes Systems, das seine Panegyriker noch vor kurzem als die beste aller Finanzwelten anpriesen, als das effizienteste und freieste, das die Welt je gekannt hat? Sein einziger Fehler besteht darin, daß nur ausgewiesene Experten, Bankgurus und Fondsmanager wissen, wie man mit ihm umgeht.

Doch jetzt sind diese Fachleute selber sprachlos. Das System reagiert anders als sie es erwarteten. Weder der Zeitpunkt der Krise stimmt noch ihre Fokussierung auf totsichere Aktien und Anleihen. Der gemeinhin als Auslöser und Infektionsherd solcher Krisen gescholtene US-Dollar steht auch nicht zur Verfügung. Er blieb wenigstens bislang außen vor.

Der Verfall der Aktienkurse kontrastiert mit der günstigen Verfassung der Weltwirtschaft und der sie tragenden Hauptakteure. Die meisten Industrie- und Drittweltstaaten (mit Ausnahme Afrikas) erfreuen sich bester Kondition und Gesundheit. Weder die aufstrebenden Volkswirtschaften des Fernen Ostens, Lateinamerikas oder das seine Einnahmen aus dem Öl- und Rohstoffboom zur Entschuldung nutzende Rußland noch die ungebrochene US-Konjunktur geben den Stoff her, um den Einbruch schlüssig und allgemeinverständlich zu erklären.

Gut: Die USA als weltwirtschaftliche Lokomotivökonomie mögen ihr Wirtschaftswachstum und ihre befriedigende Lage am Arbeitsmarkt besorgniserregenden Defiziten in Staatshaushalt und Leistungsbilanz verdanken. Doch es sind gerade diese Defizite, die dem Aufschwung der anderen Welthandelspartner den erforderlichen Schub verpassen und ihre Exportkonjunkturen (die deutsche eingeschlossen) finanzieren. Die Defizite der USA finden ihren Gegenposten in den anschwellenden US-Dollarvermögen und -reserven ihrer ausländischen Partner und Kontrahenten. Diese werden durch die Defizitpolitik der USA reicher und nicht ärmer.

Und die USA selber? Sie belasten ihr gewaltiges In- und Auslandsvermögen mit Hypotheken. Doch deren Bedienung (noch immer weitgehend aus eigenen Kapitalerträgen) schränkt keineswegs ihre finanzielle Beweglichkeit ein. Noch nicht. Denn die Besitzer der sich aufhäufenden US-Dollarvermögen und -forderungen haben keine Alternative. Sie können es sich nicht leisten, sich vom US-Dollar zu trennen und in andere Währungen umzusteigen. In welche denn? Sie würden sich beim Umtausch Milliardenverluste zufügen und hätten nicht die geringste Gewähr, ihr künftiges Verlustrisiko zu mindern oder auszuschalten. Gemessen am Dollar schwanken auch diese Währungen keineswegs nur nach oben - und das neuerdings wieder beliebte Gold sogar stärker als jede Ersatzwährung.

Jede Krise, die sich mit gängigem Expertenlatein nicht erklären läßt, belebt die Phantasie. Doch was die Kapitalmarktdeuter derzeit als Erklärung anbieten, macht wenig Sinn und erinnert eher an die Vorläufer der Zunft im alten Rom. Diesen dienten Vogelflug und -eingeweide als Schlüssel zur Erklärung der Realität. Heutige Kapitalmarktexperten ziehen Fakten heran, die zwar zutreffen können, momentan aber gerade nicht zutreffen.

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Der westliche marktwirtschaftliche Kapitalismus spielt buchstäblich mit dem Feuer, genauer seinem eingebauten Sprengsatz - der Doppelverwendung des Geldes als Mittel der Investitionsfinanzierung oder spekulativen Finanzanlage.

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Weder haben die weltweit führenden Zentralbanken der USA, Japans und der EU mit den minimalen Zinsanhebungen der letzten Wochen gewaltige Zinseruptionen oder Kapitalbewegungen ausgelöst. Noch läßt sich in Zeiten eines stabilen, aber mäßigen Wirtschaftswachstums eine gesteigerte Inflationsfurcht der Anleger nachweisen oder gar messen. Und die berechtigte Sorge, daß weltweit die Öl-, Gas- Benzin- und sonstigen Energiepreise noch weiter steigen könnten, läßt nicht das Inflationsrisiko eskalieren, sondern das umgekehrte von Deflation und Krise. Die verteuerten Heiz- und Benzinkosten reduzieren bei den Privathaushalten das Nachfragepotential für alle übrigen Produkte und Dienstleistungen ihrer Volkswirtschaft: Wer mehr für Heizung, Strom und Benzin ausgeben muß, dem bleibt weniger Geld übrig für den Rest.

Die schlichte Wahrheit ist vielmehr: Das Finanz- und Börsensystem reagiert zur Zeit ganz normal auf die leichte (nicht unbedingt dauerhafte) Verbesserung des weltwirtschaftlichen Klimas und die neuen konjunkturellen Hoffnungsschimmer am Horizont bislang stagnierender Volkswirtschaften wie der deutschen. Der Kurseinbruch ist ein Signal für den sich ausbreitenden Optimismus und keines für die Zunahme von schlechter Stimmung und Lethargie.

Wenn es sich wieder lohnt, mehr statt weniger (in Kapazitäten und Sachanlagen) zu investieren - ein Trend, der besonders deutlich in Japan und Deutschland zu beobachten ist -, dann greifen die großen wie die kleinen Unternehmen vermehrt auf ihr bislang in Finanzanlagen geparktes Vermögen zurück. Sie verwandeln Firmenliquidität in reales Kapital und Arbeitsplätze - ein ebenso normaler wie zu begrüßender Vorgang; denn er beendet die Flucht der Unternehmen in die Finanzwerte und aus ihrer Verantwortung als Arbeitgeber. Man setzt wieder verstärkt auf Expansion und Wagnis statt wie bisher auf Zurückhaltung, Liquiditätsbunkerung und Spekulation.

Doch ist und bleibt jede noch so richtige Deutung der Situation ein Schnappschuß. Er läßt zwar erkennen, was ist, aber noch längst nicht, was daraus werden könnte. Zur Debatte stehen, verdrängt oder verharmlost, die möglichen die Folgen der Globalisierung und eines seinen eigenen Aktivitäten, Launen, Fehlentwicklungen und -deutungen überlassenen internationalen Finanzsystems - desjenigen, das wir seit dem Untergang der nach dem Zweiten Weltkrieg aus der Taufe gehobenen Weltwährungsordnung von Bretton Woods seit über 30 Jahren haben.

Seit dieser Zeit spielt der westliche marktwirtschaftliche Kapitalismus buchstäblich mit dem Feuer, genauer seinem eingebauten Sprengsatz - der Doppelverwendung des Geldes als Mittel der Investitionsfinanzierung oder spekulativen Finanzanlage. Man kann mit demselben Geld reale Werte schaffen oder an die Börse gehen: Geld mit Geld machen oder es verlieren.

Bereits einmal, vor 77 Jahren, hätte diese Doppelnatur der Geldwirtschaft den Kapitalismus ebenso vom Globus abtreten lassen wie inzwischen seinen Erzfeind den Kommunismus. Damals im Gefolge eines Börsencrash, des "Schwarzen Freitag" der New Yorker Börse vom Oktober 1929, verabschiedeten sich immer mehr führende westliche Industrieländer - Deutschland an der Spitze - erst von der Freiheit der internationalen und dann der nationalen Kapitalmärkte.

Sie klinkten sich aus der Weltwirtschaft aus und verwandelten diese in ein Schlachtfeld, auf dem sie ihre immer heftigeren Währungs- und Handelskriege um Märkte, Rohstoffe und Devisen austrugen - in der zumeist vergeblichen Hoffnung, dadurch die ihre politische Stabilität zerstörenden Wirtschafts-, Beschäftigungs- und Sozialkrisen wieder in den Griff zu kriegen.

Immer mehr Politikern und Analytikern der damaligen Zeit wurde es zur Gewißheit, daß sich Demokratie und freie Märkte nicht auf einen gemeinsamen Nenner bringen und verwirklichen ließen. Deutschland verschrieb sich Hitler. Dieser eskalierte folgerichtig den vorläufig noch kalten Wirtschaftskrieg um Lebensraum, Ressourcen und Rohstoffe zum heißen Krieg Deutschlands mit seinen europäischen Nachbarn. Eine Entwicklung, die kompetente Analytiker und Politiker leicht hätten erkennen und verhindern können!

Gerettet hat damals den westlichen Kapitalismus nicht der Sieg der alliierten Waffen. Die westlichen Demokratien mußten als Folge der auch sie nach dem Schwarzen Freitag heimsuchenden "Großen Depression" dieselben Probleme meistern wie Hitlers Deutschland. Auch sie mußten zu Hause mit Verarmung, Arbeitslosigkeit und Krise fertig werden, ohne die Demokratie zu gefährden oder sie wie Deutschland (und andere Staaten in Europa) zu verabschieden. Es war die ökonomische Wissenschaft, zumal die angelsächsische, die damals die richtigen Lehren aus dem Desaster gezogen und Schlimmeres verhindert hat.

Die Freiheit der Wirtschaft hat und findet ihre Grenze am Gemeinwohl; der Nutzen der Unternehmen, zumal ihrer Eigner (Aktionäre) und Manager, steht nicht über dem Wohl für Belegschaft und Gesellschaft. Soziale Verantwortung ist keine abstrakte Tugend, sondern eine, die sich im Alltag bewährt und beweist. Und: Der Staat muß die Weichen seiner Gesetzgebung für Unternehmertum und Management so stellen, daß sie nicht in Versuchung geraten, dagegen zu verstoßen.

Dem aber dient vor allem eines: die Kontrolle und Einbindung der großen Banken, Geldgeber und Finanziers. Den Herren über Geld und Kredit muß der Dienst an der realen, Werte und Arbeitsplätze schaffenden Investitionsfinanzierung höher und näher stehen als an der finanziellen Spekulation. Denn letztere mag noch so hohe persönliche Gewinne verheißen, es sind keine sozial verwertbaren. Eine Aktienhausse schafft weder neues noch sozial verwertbares Kapital - sie bewertet ein längst vorhandenes Kapital höher ohne großen gesellschaftlichen Wert.

Es war John Maynard Keynes mit seiner Schule der welfare economics, der diese Ideen in die Politik einbrachte und damit die "soziale Marktwirtschaft" begründete, lange bevor sie auch im Nachkriegs-Westdeutschland auf fruchtbaren Boden fielen. Man schmälert nicht das Verdienst Ludwig Erhards und anderer deutscher Liberaler, wenn man daran erinnert, daß sie auch ohne Keynes zu zitieren, seine politische Botschaft umsetzten: kurz nach dem Krieg eine Marktwirtschaft mit sozialem Gesicht und aus sozialer Verantwortung schufen, die ein wahres Wirtschaftswunder auslöste.

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Bereits einmal, vor 77 Jahren der Schwarze Freitag am 25. Oktober 1929, hätte diese Doppelnatur der Geldwirtschaft den Kapitalismus ebenso vom Globus abtreten lassen wie inzwischen seinen Erzfeind, den Kommunismus.

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Und es war Keynes, der seine Botschaft von der sozialen Kontrolle der Geld- und Finanzmärkte in die Weltwährungskonferenz von Bretton Woods (1944) einbrachte, um sie zur Grundlage einer neuen und stabilen Weltwirtschaftsordnung für die Nachkriegszeit zu machen. Nie wieder sollte ein Schwarzer Freitag eine politische Weltkrise auslösen - mit höchster Lebensgefahr für Demokratie, Marktwirtschaft und Freiheit. Auch wenn die USA das Keynes'sche Konzept stark verwässerten, sein Geist und seine Institutionen (Internationaler Währungsfonds/IWF und Weltbank) blieben erhalten.

Die Welt hat im Rückblick auf die Bretton-Woods-Ära nie wieder ein so "goldenes" Vierteljahrhundert erlebt, wie es die Jahre von 1945 bis 1973 waren. Die Kriegsschäden wurden beseitigt, die Dritte Welt in die Weltwirtschaft integriert, ihr Rückstand zu den Industriestaaten nahm ab statt zu.

Und heute? Seit es diese Ordnung nicht mehr gibt, sind die internationalen Finanzmärkte zwar größer, dominanter und freier, aber zugleich auch unberechenbarer und gefährdeter denn je. Ein Finanzbeben jagt das andere, mal liegt das Epizentrum in Lateinamerika, mal in Osteuropa, mal im Fernen Osten. Jede dieser Währungskrisen könnte die letzte sein, weil sich das Menetekel der Zeit nach 1929 wiederholt.

Wissenschaft und Politik haben ihr historisches Gedächtnis verloren. Sie fallen zurück in die Zeit vor der Großen Depression. Doch Amnesien sind für den Betroffenen früher oder später tödlich!

Zwar bekriegen sich in der "globalisierten" Welt- und Finanzwirtschaft von heute nicht Staaten und ihre Armeen, sondern "nur" die großen Konzerne und Finanzhäuser. Es sind global players, die zu global fighters geworden sind. Nur: Verlieren die Chefs ihren Krieg um Märkte und Profite, wälzen sie die Kosten unbehelligt auf die Arbeitsplätze ihrer Mitarbeiter und die Ersparnisse und Altersgroschen ihrer Aktionäre ab. Noch zehn Jahre nach dem Schwarzen Freitag, am Vorabend des Zweiten Weltkriegs, zahlten die US-Pensionsfonds Ruhegehälter aus, die weit unter dem Niveau von 1929 lagen.

Wer das verhindern will, muß die Freiheit der Märkte mit der sozialen Verantwortung der Staaten versöhnen. Nur mit kontrollierten und nicht ihrem Wildwuchs überlassenen Geld- und Finanzmärkten wird der Kapitalismus überleben und ein global akzeptiertes Modell werden oder bleiben können. Oder er folgt seinem unechten Zwillingsbruder, dem Kommunismus, und endet im zweiten Schwarzen Freitag des neuen Jahrhunderts.

 

Prof. Dr. Wilhelm Hankel war bis 1967 Direktor der Kreditanstalt für Wiederaufbau, danach leitete er als Ministerialdirektor die Abteilung "Geld und Kredit" im Wirtschafts- und Finanzministerium unter Karl Schiller (SPD). Später wurde er Präsident der Hessischen Landesbank. Seit 1967 lehrt er Währungs- und Entwicklungspolitik an der Johann-Wolfgang-Goethe-Universität in Frankfurt am Main.

 

Foto: Der Bär überschattet die Börsenkurse: "Das Finanz- und Börsensystem reagiert zur Zeit ganz normal auf die leichte (nicht unbedingt dauerhafte) Verbesserung des weltwirtschaftlichen Klimas und die neuen konjunkturellen Hoffnungsschimmer am Horizont bislang stagnierender Volkswirtschaften wie der deutschen. Der Kurseinbruch ist ein Signal für den sich ausbreitenden Optimismus und keines für die Zunahme von schlechter Stimmung und Lethargie."


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