© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 27/06 30. Juni 2006

"Deutschland verwunschen"
Der Journalist und Autor Jens Bisky über das Tändeln in Schwarz-Rot-Gold und die Notwendigkeit eines echten Patriotismus
Moritz Schwarz

Herr Bisky, Schwarz-Rot-Gold, Viertelfinale, ganz Deutschland ist aus dem Häuschen! Sind Sie auch total begeistert?

Bisky: Wir erleben einen schönen Augenblick, ein großes Fest. Laut Goethe imponiert sich da die Menge mit sich selber.

Sie sind auch Patriot?

Bisky: Ich bin nicht mehr und nicht weniger Patriot als vor der WM. Wieviel dieses Fußball-Fest wirklich mit Patriotismus zu tun hat, ist die Frage. Aber mir ist der Patriot grundsätzlich und schon immer sympathisch gewesen. Er ist eine Figur des 18. Jahrhunderts, einer, der gegen die Borniertheit der Unterschichten und den Egoismus der Oberschichten steht, jemand, der sich dem Gemeinwohl verpflichtet fühlt.

Wortwechsel zwischen zwei Mädchen auf der Berliner Fanmeile. Deutsches Mädchen: "Schön, die vielen Fahnen. Aber man sollte es nicht übertreiben." Ghanaisches Mädchen: "Doch! Man darf auch ruhig übertreiben!" Übertreiben Sie auch mal?

Bisky: Patriotismus stellt man sicherlich nicht durch Jubeln beim Fußball unter Beweis. Aber ich habe mir zum Beispiel das Spiel Deutschland gegen Polen auf einer öffentlichen Leinwand zusammen mit polnischen Freunden angeschaut, und es war eine große Freude. Vorher konnte man in polnischen Webforen lesen: "Wenn den Deutschen nach 15 Minuten nicht die Russen zur Hilfe kommen, dann wird das für die Deutschen nichts." Also eine Erinnerung an den 17. September 1939, als Stalins Truppen von Osten in Polen einmarschierten. Nach der WM-Niederlage für Polen las man in den gleichen Foren, Polen habe durch den knappen Ausgang seine Ehre wiedergewonnen, das Spiel sei "wie die Verteidigung der Westerplatte" gewesen.

Sehr sympathisch!

Bisky: Möglicherweise schwarzer Humor, aber wahrscheinlich vor allem kleingeistig, unfähig, Abschied zu nehmen von der Vergangenheit.

Sie sind aber ein ernsthafter Patriot. Ihr Dienst für König, Volk und Vaterland kennt nur Pflicht, keinen Spaß?

Bisky: Was würden Sie jemandem sagen, der propagiert, das Spiel gegen Schweden sei die Wiederholung der Schlacht von Fehrbellin 1675 gewesen?

Daß unser Sieg am Samstag die Rache für die schwedische Okkupation und Ansprüche in Bremen, Mecklenburg und Pommern von 1648 bis 1903 war!

Bisky: Das scheint mir alles ziemlich albern.

Egal.

Bisky: In Deutschland nimmt keiner diese Vergleiche ernst. Aber in Polen gibt es einen Nationalstolz, wie man sich ihn in Deutschland überhaupt nicht mehr vorstellen kann. Als etwa Vertreter von Grünen und SPD zur "Parade der Gleichheit" - das ist der Christopher Street Day - am 10. Juni in Warschau gefahren sind, da lautete der Kommentar von Radio Marija, es sei wie 1939: "Die Deutschen kommen und wollen uns ihre Art zu leben aufzwingen!"

"Die Wiederentdeckung der deutschen Geschichte"

Wenn Sie derzeit in die Feuilletons blicken, dann ist das Wort der Stunde weder "Deutschland" noch "Fußball", sondern: "unverkrampft".

Bisky: Das Wort "unverkrampft" gehört auf den Index. Das klingt doch nach Frustrierten, die sich ständig versichern müssen, wie locker sie seien. Die Debatte um den "unverkrampften" neuen Umgang mit unseren Nationalsymbolen gehört zum langen Abschied von der alten Bundesrepublik.

Sie sprechen von der Generation der Achtundsechziger?

Bisky: Ich spreche vom bundesdeutschen Gemüt der siebziger und achtziger Jahre. Von der Haltung, im Ausland um keinen Preis als Deutscher aufzufallen, Abstand zu allem zu halten, was mit Nation oder gar Preußen irgendwie positiv zusammenhängen könnte. Man hatte geglaubt, sich in seinem Nachkriegsprovisorium Bundesrepublik dauerhaft einrichten zu können, und wurde dann davon überrascht, daß sich doch noch Geschichte ereignet, selbst im Schönwetterstaat BRD. Das alles ist 1990 an sein Ende gekommen, allmählich und recht langsam setzt sich nun diese Einsicht durch: Teilweise unter Schmerzen, teilweise frivol, teilweise auch ehrlich, wird die Fülle der deutschen Geschichte wiederentdeckt. Ein paar Jahre noch werden wir regelmäßig derlei Debatten erleben, bis sie keinen Hund mehr hinter dem Ofen hervorlocken.

Was kommt danach?

Bisky: Das weiß ich nicht. Die Berliner Republik ist noch eine sehr unklare Figur.

Sie meinen mit Wiederentdecker der deutschen Geschichte und Tradition zum Beispiel Menschen wie Matthias Matussek oder Florian Langenscheidt, mit ihren Patriotismus-Büchern?

Bisky: Ja, oder Eckhard Fuhrs "Wo wir uns finden". Ich will diese Bücher nicht vorschnell vom Tisch wischen, aber mir scheint es, daß da mit Schwung offene Türen eingerannt werden.

Matussek hat immerhin auch mit massiver Kritik zu kämpfen.

Bisky: Wenn sich ein Spiegel-Kulturchef hinstellt und behauptet, er breche ein Tabu - wer soll das glauben? Man kann nicht einen der einflußreichsten journalistischen Posten im Land innehaben und dann so tun, als sei man ein Außenseiter. Außerdem ist das Thema Patriotismus auch eine Spielmarke im Meinungsbetrieb. Wenn Sie Aufmerksamkeit erzielen wollen, dann setzen Sie auch mal diese! Glauben Sie bloß nicht, daß daraus immer etwas folgen muß.

"Patriotismus 'mit freundlicher Unterstützung von Adidas'"

Vaterland-Debatte in den Feuilletons und der Schwarz-Rot-Gold-Rausch in den Straßen enthalten für Ihren Geschmack also zu wenig echten Patriotismus?

Bisky: Ich habe eine ungeheure Sympathie für das Fest, das wir gerade erleben! Und ich stehe dem Deutungsbetrieb, der das Fest nicht auf sich beruhen lassen will, mit großer Skepsis gegenüber. Bei der Frage, wovon eine Nation lebt, geht es nicht um Stimmungen, sondern um Institutionen. Auch sind die Signale ja in sich widersprüchlich: Im Namen des Party-Patriotismus werden etwa die wichtigen symbolischen Orte Berlins, wie etwa das Brandenburger Tor oder der Platz der Republik in einer schäbigen Weise einfach den Sponsoren überlassen. Wäre das in England, Frankreich oder Amerika möglich? Wohl kaum!

Und das nicht zum ersten Mal: Wiedervereinigungsfeiern in Berlin zum 3. Oktober ließ man von der Deutschen Post ausrichten, die Wiedereinweihung des restaurierten Brandenburger Tors 2002 vom Energieversorger Vattenfall. Die Veranstaltungen wurden so zu massiven "Werbe-Events" in den Farben der geldgebenden Unternehmen.

Bisky: Ein ordentlicher Patriotismus richtet sich aufs Gemeinwohl, da stehen eigene Interessen zurück. Der "neue Patriotismus" wird uns präsentiert mit freundlicher Unterstützung von Adidas und McDonald's.

Zuletzt hat Bundeskanzler Schröder die deutsche Wirtschaft ermahnt, mehr echten Patriotismus an den Tag zu legen.

Bisky: Er ist damit nicht weit gekommen. Kapital ist nun einmal notorisch vaterlandslos. Fragt man nach dem Gehalt der neuen Stimmung, nach dem, was Patriotismus, Leitkultur oder neue Vaterlandsliebe ausmachen sollen, steht man mit nahezu leeren Händen da. Was hieße denn Gemeinwohl nach der Wiedervereinigung, inmitten der EU, mit einer neuen Unterschicht und ohne stetiges Wachstum? Dieser Debatte sind die Eliten seit 1990 ausgewichen.

In Ihrem Buch "Die deutsche Frage. Warum die Einheit unser Land gefährdet" haben Sie sich mit den Problemen der Wiedervereinigung beschäftigt. Obwohl der Titel im ersten Moment recht "antinational" klingt, erweist sich Ihr Buch als patriotisch, indem es die gemachten Fehler bedauert und bemüht ist, konstruktive Korrekturvorschläge zu formulieren.

Bisky: Ja, die entscheidende Gemeinwohl-Frage ist doch: Wie können unsere Institutionen aus der Dauerverwahrlosung, die wir zugelassen haben, herausgeführt werden? Denn während wir die WM feiern, schwächeln die zentralen Einrichtungen der Nation - jene "Aggregate", die Nation erst "herstellen", wie etwa Sozialstaat, Bildungseinrichtungen und Wehrpflicht - vor sich hin.

Und was tun?

Bisky: Die Antwort ist nicht einfach. Wenn man in der Geschichte nach Analogien suchen will, sollte man noch einmal die preußische Reformzeit betrachten. 200 Jahre ist es her, daß dieser Staat nach der Niederlage bei Jena und Auerstedt beinahe verschwand und dann aus eigenen Kräften, durch Mobilisierung seiner Bürger, durch Universitätsgründung und neue Freiheitsrechte, wieder emporkam.

Und was fehlt über die Pflege der Institutionen hinaus, um wieder jenen alten Patriotismus zu erzeugen, der das nötige Verantwortungsbewußtsein birgt?

Bisky: Den alten Patriotismus kann man getrost den Alten überlassen. Man muß nicht alles konservieren. Wichtige Dinge wie Freiheit, Schönheit, Liebe, auch die Vaterlandsliebe vertragen allzu laute Propaganda nicht. Wer wie ich aus einer Bekenntnisdiktatur kommt, geht dann rasch auf Distanz. Aber eine Vorstellung sollte man besitzen von dem, was Deutschland als geistiges Gebilde ausmacht: die Jahrtausendgestalt Martin Luther, der deutsche Idealismus nebst Weimarer Klassik und Romantik und die deutsche Musik von Bach bis Wagner. Tradition braucht Arbeit, damit sie nicht abbricht. Im 19. Jahrhundert haben die "vaterlandslosen Gesellen" der Arbeiterbewegung ähnliche Werte gepflegt wie das tonangebende Bürgertum: Bildungsideal, Schillerverehrung, Gesangsvereine, Sportvereine, etc. Heute haben wir dagegen eine völlig vaterlandslose Oberschicht und eine Unterschicht, die von den kulturprägenden Schichten nicht mehr erreicht wird, sondern sozusagen von RTL erzogen wird. Immerhin: In der nervösen, von Abstiegsängsten geplagten Mittelschicht erleben wir gleichzeitig seit Pisa ein neues gewaltiges Interesse an Bildung.

Mit einem neuen Sinn für Bildung und humanistische Bildungsideale könnte auch ein neuer Sinn für Errungenschaften des Humanismus wie Patriotismus und Vaterland einhergehen?

Bisky: Ich weiß nicht, ob der alte Patriotismus noch eine Chance hat. Die Nation des 19. Jahrhunderts wird gewiß nicht wiederkehren. Die Deutschen des 21. Jahrhunderts stehen vor der Aufgabe, sich jenes Europa wieder zu erschließen, das ihren Vorfahren noch selbstverständlich war, das Europa etwa Casanovas oder Goethes: von Moskau bis London, von Stockholm bis Neapel. Patriotisch ist es, den Menschen dies zu ermöglichen, indem man sie wieder mit ihrer geistigen Tradition vertraut macht. Es ist dagegen doch eine Art des Klassenkampfes von oben, wenn an den Schulen der Bildungskanon nicht mehr vermittelt wird. Kinder, denen zu Hause keine Bücher in die Hand gegeben, keine Verse vorgetragen werden, werden durch schlechte Schulen noch einmal deklassiert. Die deutsche Bildungstradition zielte darauf, freie Menschen zu schaffen. Und nur freie Menschen können vernünftige Staatsbürger sein.

Man findet in dieser Zeit des erfolgsorientierten Bildungsutilitarismus kaum noch jemanden, der die national-humanistischen Aspekte unseres traditionellen Bildungsideals hochleben läßt.

Bisky: Ich tue das, weil ich es als eine ungeheuer befreiende Erfahrung erlebt habe, diese Traditionen kennenzulernen. Und staatliche Institutionen müssen sich wieder auf ihren Auftrag besinnen, diese Erfahrung zu vermitteln. Dank dieser Erfahrung ist mir heute auch klar, daß ein guter Teil dessen, was wir "Rechtsextremismus" nennen, viel eher ein Verwahrlosungs-, als ein Ideologieproblem ist. In diesem Sinne habe ich mich immer deutscher gefühlt als Skinhead-Schlägerbanden oder manche Herren von der NPD, die die Nation für ein Gestüt halten.

"Deutschland: fremd geworden und nun erlösungsbedürftig"

Skinheads, WM-Begeisterung und Matussek-Buch stellen Sie als ernstzunehmenden Patriotismus-Beitrag zum Beispiel ein Buch wie das von Wolfgang Büscher "In Deutschland. Eine Reise" gegenüber.

Bisky: Ja, mit unverstelltem Blick, mehr beobachtend als meinend, berichtet es von einem verwunschenen Land, das sich selbst fremd geworden scheint. Büschers Deutschland wirkt so verwunschen wie erlösungsbedürftig. Auch dieses Buch zelebriert einen Abschied von der alten Bundesrepublik.

Warum ist dieser Abschied ein so langer, so schwieriger Prozeß?

Bisky: Weil man in Westdeutschland bis heute nicht verstanden hat, daß man auch in Köln oder München 1989 - wenn auch auf andere Weise - befreit worden ist: befreit aus der absurden provisorischen Existenz der rheinischen Republik. Auch im Westen sind die Besatzungsmächte abgezogen, die staatliche Souveränität kam zurück, der geistige Horizont änderte sich fundamental, weil ein ganzer Erdteil, der vierzig Jahre hinter einer Mauer verborgen war, ins Gesichtsfeld zurückkehrte.

Sie betrachten das, nicht den mißlungenen "Aufbau Ost", als den eigentlichen Grund für das "Scheitern" der deutschen Einheit?

Bisky: Beides gehört zusammen. Die Art, in der der Aufbau Ost betrieben wurde, sollte ja sichern, das möglichst wenig am eingeschweißten Dasein des alten Westens sich ändern müsse. Die Wende des Jahres 1989 wird bis heute als ostdeutsche Spezialgeschichte erzählt, dabei war es ein gesamtdeutsches Ereignis. Das scheint mir bis heute nicht verstanden. Daher erzählt Matussek seine Achtundsechziger-Geschichte, die Zonis ihre Ostalgiegeschichte, und der Meinungsbetrieb glaubt, ein paar Deutschland-Fahnen im Straßenbild würden eine neue Epoche der Nationalgeschichte einläuten.

 

Jens Bisky. Der Feuilleton-Redakteur der Süddeutschen Zeitung und Publizist ist der älteste Sohn des PDS-Vorsitzenden Lothar Bisky. Geboren wurde er am 13. August 1966 in Leipzig. Der ehemalige FDJ-Sekretär war Leutnant der NVA, 1991 trat er aus der PDS aus. Ab 1989 arbeitete er beim DDR-Jugendradio DT 64. Nach der Wende studierte er Kulturwissenschaft und Germanistik. Bekannt geworden ist er mit seinem Erinnerungsband "Geboren am 13. August" (Rowohlt, 2004) und seiner - konstruktiven - Bestandsaufnahme "Die deutsche Frage. Warum die Einheit unser Land gefährdet" (Rowohlt, 2005)

 

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