© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 28/06 07. Juli 2006

Die Besten verlassen das Land
Polen: Mit fast 20 Prozent liegt die Arbeitslosenquote auf EU-Rekordniveau / Regierung setzt auf Vaterlandsliebe und Glaubenstreue
Lubomir T. Winnik

Hundert Kilometer südlich von Breslau, malerisch eingerahmt von Habelschwerdter, Glatzer und Reichensteiner Gebirge liegt das schlesische Städtchen Habelschwerdt. Gegründet im 13. Jahrhundert, heißt es seit 1945 Bystrzyca Kłodzka. Die 20.000-Seelen-Gemeinde ist berühmt für ihr Museum über die Geschichte des Feuers. Die mittelalterliche Stadtmauer und die prachtvollen Kirchen sind Sehenswürdigkeiten. Immer mehr Touristen aus der Tschechei und Deutschland kommen in die Stadt. Doch ist dies alles viel zu wenig, um jenes Problem zu lösen, welches die Stadt seit der Wende 1990 im Würgegriff hält: die Arbeitslosigkeit.

Sozialhilfegeld deckt nur ein Zehntel der Miete

3.450 Personen im erwerbsfähigen Alter (29 Prozent) sind derzeit in Habelschwerdt ohne Stelle. Zwar blieben die früher staatlichen Zündholz- und Möbelfabriken in Betrieb, nachdem sie an einen Italiener und einen Deutschen verkauft worden waren. Die Privatisierung bedeutete jedoch Massenentlassungen, und die übriggebliebenen 700 Beschäftigten sind ihrer Zukunft ebenfalls nicht sicher. 1.800 Familien leben von Sozialhilfe - oder versuchen es, denn je nach Kassenstand der lokalen Sozialwerke kann sie im Monat bisweilen bis auf 30 Złoty (7,40 Euro) sinken. Doch die niedrigste Wohnungsmiete in der Stadt beträgt 300 Złoty (74 Euro). Was tun? Von seiten des Staates - Polen weist mit 19,4 Prozent die höchste Arbeitslosenquote in der EU auf - kann vorerst nicht viel erwartet werden, zumal in den von Warschau weit entfernten Woiwodschaften.

Doch längst nicht alle Betroffenen bleiben passiv. Grażyna Wdowiak war fast zwei Jahrzehnte Vizechefin der städtischen Anstalt für öffentliche Hilfe. Vor einem Jahr gründete sie ein Gemeindehilfswerk für Arbeitslose. Selbst in Warschau hat man die Aktivitäten des "Zentrums für die öffentliche Integration" wahrgenommen: Es wurde in Studien der Polnischen Akademie der Wissenschaften (PAN) und der Universität Warschau als Modell für ganz Polen empfohlen. "Das Ziel unseres Zentrums ist es, den willigen, den tüchtigen und risikobereiten Menschen zu helfen und mit kleinen, flexiblen Einsatzgruppen eine Art spezialisierte Berufsgenossenschaften zu gründen. Jede Gruppe bildet eine eigenständige Körperschaft. Die Leute müssen sich gut kennen, einander vertrauen und wirken nach dem Motto der Musketiere: einer für alle, alle für einen", erklärte Wdowiak der JUNGEN FREIHEIT. "Die erzielten Erträge werden untereinander gleichmäßig aufgeteilt. Diese Methode fördert eine hohe Motivation und dadurch auch eine hohe Qualität der gebotenen Dienstleistungen." Gegenwärtig betreut das Zentrum über 50 Personen, darunter 20 verurteilte Kleinkriminelle.

Profitieren können auch die von der Arbeitslosigkeit besonders schwer betroffenen Frauen. So entstanden etwa Mini-Genossenschaften, die Hauskrankenpflege anbieten. Den Einstieg in diese Selbständigkeit fördert auch der Staat, indem er jeder Person 7.000 Złoty (1.732 Euro) Startkapital gewährt und für ein Jahr bloß rein symbolische Sozialversicherungsbeiträge (ZUS) kassiert.

Wer volle zwölf Monate gearbeitet hat, kann bei Erwerbslosigkeit ein Jahr lang Arbeitslosengeld beziehen. Doch in der Praxis sieht es anders aus. Nach den Erhebungen des Statistikamtes (GUS) stand im Juli 2005 nur noch 12,5 Prozent der arbeitslosen Polen dieses "Privileg" von pauschal 460 Złoty (113 Euro) monatlich zu. Auch Senioren, die 120 Złoty (29 Euro) mehr erhalten, können damit selbst auf dem Lande nur Miete und Strom bezahlen. Das erfordert Überlebenskunst. 87,5 Prozent der Arbeitslosen kommen nicht einmal in den Genuß der mickrigen Unterstützung. Die Gründe sind vielfältig: Zum einen sei die Kurzlebigkeit der fast zwei Millionen Kleinbetriebe daran schuld, in welchen, wie Janusz Śniadek, Vizepräsident der Gewerkschaft Solidarność, erklärt, "Dschungelgesetze" herrschten: "Wir sind machtlos angesichts der verbalen Mißachtung des Arbeitsrechtes." Zum anderen sei die Gerissenheit der Großunternehmen ebenfalls nicht zu unterschätzen, welche die ausweglose Lage der Menschen ausnutzten und sie nur temporär oder vielfach unter dubiosen Bedingungen beschäftigten. Dazu kommen die Undurchsichtigkeit der vielen ausländischen Investoren sowie das Dickicht von sich gegenseitig ausschließenden, nicht selten anachronistischen Verordnungen der Staatsbehörden, welchen die neue Regierung von Premier Kazimierz Marcinkiewicz mit voller Wucht zu Leibe rücken möchte.

Doch die unter Druck geratenen bisherigen Profiteure und die wirtschaftsliberale Oppositionspartei PO schlagen Alarm und sehen die unternehmerische Freiheit bedroht. Die seit 2005 oppositionellen Postkommunisten (SLD) werden nicht zu Unrecht als Hauptverursacher der Misere angeprangert. Die einst mächtige Gewerkschaftsbewegung Solidarność, welche 1989 den verhaßten Realsozialismus stürzte, wittert die Gunst der Stunde und setzt auf die sozialkonservative Regierungspartei "Recht und Gerechtigkeit" (PiS). "Unsere Regierung will mit aller Entschiedenheit den Niedergang von 1.300 großen Betrieben verhindern, welche als Staatsvermögen und exzellente Arbeitgeber für das Land bewahrt werden müssen. Sie steht für Marktwirtschaft, will jedoch dem bisherigen ungezügelten Wildwuchs einen Riegel vorschieben", erklärte der Chefredakteur der Gewerkschaftszeitung Tygodnik Solidarność, Jerzy Kłosiński, der JF. "Das ist gut so. Denn wer in den letzten Jahren genügend Geld hatte, kaufte sich zum Beispiel staatliche Industrieanlagen oder was immer ihm paßte, und dies meistens zu Schleuderpreisen. Der Staat, das heißt unsere Gesellschaft, ging dabei leer aus. Einige wenige konnten sich maßlos bereichern, während die Mehrheit des Volkes verarmte. Mit anderen Worten: Wir wollen keine Sozialfloskeln à la Postkommunisten mehr, sondern eine gerechte Teilung der Güter unter allen gesellschaftlichen Schichten unseres Landes anstreben. Das bedeut auch mehr Staat, in welchem dem Staatspräsidenten die Rolle eines sorgsamen Hausherren zufällt."

Niedrige Entlohnung treibt die Fachkräfte ins Ausland

Die Wirtschaftswissenschaftler sind hingegen skeptisch. "Der Staat soll Rahmenbedingungen für die Chancengleichheit schaffen, das heißt die Leute ausbilden und Programme ins Leben rufen, damit jedermann eine Beschäftigung finden kann", meinte Stanisława Golinowska vom Institut für Arbeit und Soziales (Ipiss). Auch der Sozialmißbrauch ist inwischen ein Thema. So berichtete die Zeitung 7 Dni über eine massive Zunahme der im Ausland Beschäftigten, die gleichzeitig in Polen als stellenlos gemeldet sind. Eine Million Arbeitslose, so das Blatt, arbeiteten schwarz - fast 100.000 im Ausland.

Die niedrige Entlohnung der Arbeitenden in Polen hat ebenfalls negative Folgen. Polnische Fachkräfte fliehen in Massen ins Ausland, primär nach Großbritannien (Ärzte, Krankenschwestern), Deutschland und in die Benelux-Staaten (Bauarbeiter, Handwerker) oder in die USA (Informatiker, Wissenschaftler). In manchen Krankenhäusern praktizieren kaum noch ausgebildete Ärzte. Auch deshalb appelliert die PiS-Regierung an Vaterlandsliebe und Glaubenstreue. Ob die Mischung aus Populismus, Marktwirtschaft und Umverteilungsträumen nach sozialistischem Muster plus christlicher Nächstenliebe die Probleme löst, bleibt abzuwarten.

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