© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 28/06 07. Juli 2006

Lautlose Musik der inneren Erschütterung
Was im Anfang war und am Ende bleibt: Über Gottfried Benns Gedicht "Ein Wort"
von Ulrich Schacht

Gottfried Benn
EIN WORT

Ein Wort, ein Satz -: aus Chiffren steigen

erkanntes Leben, jäher Sinn,

die Sonne steht, die Sphären schweigen

und alles ballt sich zu ihm hin.

Ein Wort -, ein Glanz, ein Flug, ein Feuer,

ein Flammenwurf, ein Sternenstrich -,

und wieder Dunkel, ungeheuer,

im leeren Raum um Welt und Ich.

Aus: Gottfried Benn, Sämtliche Werke

Stuttgarter Ausgabe Gedichte 1, S. 198,

Klett-Cotta, Stuttgart 1986

 

Welch eine poetische Wegstrecke zwischen den "fast brutalen" Kaltnadel-Ekstasen "aus der klinischen Sphäre" (Ernst Stadler) in der 1912 erschienenen ersten Gedichtepublikation Benns, "Morgue" ihr Titel, und den magischen Trost-Liedern aus den "Statischen Gedichten", zu denen "Ein Wort" gehört, die 1948 in der Schweiz herauskommen, das doppelte Verfemtsein des Dichters zwischen 1935 und 1947, zwischen NS- und Besatzungszensur, beenden und ihm eine sensationell wachsende öffentliche Wahrnehmung bescheren, als deren Höhepunkt die Verleihung des ersten Büchner-Preises der Darmstädter Akademie für Sprache und Dichtung im Jahre 1951 gelten darf.

Und doch registriert Ernst Stadler in seiner Rezension der "Morgue"-Gedichte, in denen der Mensch vor allem als Verwesungs-Phänomen ausgestellt und der berühmt-berüchtigte scheinzynische Vers "Die Krone der Schöpfung, das Schwein, der Mensch -:" zum Leitmotiv wird, schon alles, was den unvergleichlichen Benn-Ton und damit das zeitresistente poetische Genie des märkischen Arztes und Dichters begründet: "gleichsam lautlos mitschwingende Musik der inneren Erschütterung", "eine fast weibliche Empfindsamkeit und eine verzweifelte Auflehnung gegen die Tragik des Lebens und die ungeheure Gefühllosigkeit der Natur".

Aber was mit dieser "poetischen Wegstrecke" aufscheint, ist nicht so sehr eingeschlagener "Weg" im Sinne von Entwicklung ("Entwicklungsfremdheit/ ist die Tiefe des Weisen,/" heißt es im Titelgedicht "Statische Gedichte"), sondern individueller Spiel-Raum aus Subjekt-Tiefe, dessen Differenzen und Potenzen sich am durchdringenden Verhältnis von Substanz und Material ablesen lassen, das durch jene Zeit driftet, die in der endgültigen Summe zur Eigen-Zeit gerinnt und Biographie heißt.

Benns Biographie ist der Raum auch des Gedichts "Ein Wort", das das Wort, das im Anfang war, zum Programm erhebt, zum Schöpfungsprogramm, Beginn und Ende von allem, in dem das Ich sich doppelt aufgehoben weiß in der Tatsächlichkeit seines Erscheinens und Unvermeidlichkeit seines Vergehens: der meteorhaften Existenz des Menschen unter der Bedingung eines Bewußt-Seins davon, das ihn auszeichnet und quält zugleich ("O daß wir unsere Ururahnen wären./ Ein Klümpchen Schleim in einem warmen Moor./ Leben und Tod, Befruchten und Gebären/ glitte aus unseren stummen Säften vor." klagt er schon in dem "Morgue"-Gedicht "Gesänge").

Benn hat das Gedicht "Ein Wort" Ende 1941 geschrieben, in gesellschaftlicher Isolation nach den brutalen Attacken von Blut-und-Boden-trunkenen SS-Ideologen und der neid- und rachsüchtigen Goebbelschen NS-Kulturbürokratie, geschützt vor direkter Verfolgung nur durch das Militär, von dem er sich 1935 reaktivieren läßt, im Angesicht der heraufziehenden Katastrophe des totalen Krieges. Vor dem Hintergrund dieses historischen Materials, auf das die Substanz des Dichters trifft und es auf sie, ist das Gedicht weniger abstrakt-kosmologischer Entwurf für die fragwürdige Stellung des Menschen im Unerklärlichen, quasi Benns Reim auf dessen positionelles metaphysisches per se. Vielmehr promoviert Benn hier still, aber entschieden das Kunstwerk zur einzig widerstandsfähigen Anti-Welt gegenüber dem apokalyptischen Welt-Geschehen um den Künstler herum, der zwar mit in den Untergang gerissen wird, dessen Wort jedoch von einer Kraft zehrt, die es mit der Möglichkeit des Wiederauftauchens aus dem Dunkel ausgestattet hat und so zum bleibenden Wort macht.

Und dennoch hat dieses Gedicht eine ambivalente Vorstufe, die ins Jahr 1928 zurückreicht. Eine Fassung, die formal ebenso zweistrophig operiert, ebenso reimpaarig, rhythmusgetaktet und silbengefüllt. Das Gedicht heißt interessanterweise "Schöpfung", zeigt aber im direkten Vergleich, wie sehr erst die radikale Konfrontation von Material und Substanz die Qualität steigert im Sinne von Vollendung: Die zweite Version ist es, die der ersten nicht nur Wörter und Versteile der zweiten Strophe entnimmt ("Ein Wort, ein Ich, ein Flaum, ein Feuer,/ ein Fackelblau, ein Sternenstrich -/ woher, wohin - ins Ungeheuer/ von leerem Raum um Wort, um Ich."), sie läuft ihr auch erstaunlich klar den Rang ab, schafft sie doch auf deren Trümmerbasis überhaupt erst einen angemessenen Beginn, eine fulminante erste Strophe, die auf paradoxe Art die zweite poetisch vollendet.

Das historische Material, das die erste Strophe der ersten Version grundiert, ist dagegen mit seinem Revue-Ton der 1920er Jahre zwar nicht weniger authentisch, aber Revue reicht eben nur für das Feuilleton, nicht für die Katastrophe, die zur Chiffre werden kann, und auf die hat das Wort, das Benn meint, warten müssen, um zu dem schöpferischen Wider-Wort zu werden, von dem das vollendete Gedicht spricht. Es ist die poetische Version jener Einsicht, die Benn kurz vor seinem Tode im Jahre 1956 ein letztes Mal mit jenen stahlharten Sätzen flankiert, die seine Essays und Prosastücke von Beginn an auszeichnen: "Im Anfang war das Wort und nicht das Geschwätz, und am Ende wird nicht die Propaganda sein, sondern wieder das Wort."

 

Ulrich Schacht, Jahrgang 1951, lebt als Schriftsteller in Schweden. Er veröffentlicht unter anderem Gedichtbände, zuletzt in diesem Jahr "Weißer Juli".

 

Büste Gottfried Benns von Gustav Heinrich Wolf (1927)

 

Joachim Deyk
Der Zeitzeuge
Gottfried Benn 1929-1949
Wallstein Verlag, 39 Euro

 

Gunnar Decker
Gottfried Benn
Genie und Barbar
Aufbau Verlag, 26,90 Euro

 

Helmut Lethen
Der Sound der Väter
Gottfried Benn und seine Zeit
Rowohlt, 22,90 Euro

 

Wolfgang Emmerich
Gottfried Benn
rororo Monographien
Rowohlt Taschenbuch
8,50 Euro

 

Christian Schärf
Der Unberührbare
Gottfried Benn - Dichter im 20. Jahrhundert
Aisthesis Verlag, 25 Euro

 

Gottfried Benn
Gedichte
In der Fassung der Erstdrucke
Fischer Taschenbuch, 12 Euro

 

Gottfried Benn
Prosa und Autobiographie
In der Fassung der Erstdrucke
Fischer Taschenbuch, 12 Euro

 

Gottfried Benn
Das Jahrhundertwerk
Sämtliche Gedichte / Künstlerische Prosa
Klett Cotta, 29,90 Euro

 

Gottfried Benn/Ernst Jünger
Briefwechsel 1949-1956
Klett Cotta, 14,50 Euro

 

Gottfried Benn
Doppelleben
Zwei Selbstdarstellungen
Klett Cotta, 13,50 Euro


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