© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 28/06 07. Juli 2006

Mord und Totschlag
von Elliot Neaman

Die Geschichte wiederholt sich, und die Welt schaut zu. Nach Ruanda hätte es nicht mehr passieren sollen. Im Sommer 2004 sprachen US-Außenminister Colin Powell, der demokratische Präsidentschaftskandidat John Kerry sowie weitere regierungsunabhängige Stellen offen aus, was die Untersuchungskommission der Vereinten Nationen, die Europäer, die Russen und die Chinesen nicht zugeben wollten: Die sudanesische Regierung betreibt mit Absicht die vollkommene oder teilweise Vernichtung der in der Region Darfur ansässigen afrikanischen Stämme. Anders ausgedrückt, findet im Sudan laut der Definition der Uno-Völkermordskonvention von 1948 ein Genozid statt.

450.000 Menschen sind Schätzungen zufolge seit 2004 in Darfur umgebracht worden bzw. an den Folgen von Hunger, Krankheit oder Gewaltanwendung gestorben. Die Hauptverantwortlichen sind die Dschandschawid, arabische Nomaden, die mit Unterstützung der Regierung in Khartum vorgehen. Die Zerstörung der bäuerlichen Gesellschaft der Fur- und Magalit-Stämme folgt einer wohldurchdachten, kohärenten Strategie. Männer und Jungen, die alt genug zum Kämpfen sind, werden getötet, um jegliche Gegenwehr auszuschalten. Afrikanische Säuglinge werden ermordet, afrikanische Frauen werden systematisch vergewaltigt, um sie mit dem "überlegenen" Erbgut der arabischen Stämme zu schwängern. Anschließend werden sie verunstaltet, um sie als Opfer zu brandmarken. Daß Vergewaltigung in traditionellen Gesellschaften als Schande und Tabu gilt, macht diese Taktik um so wirkungsvoller, denn die Bevölkerung schweigt über die ihr widerfahrenden Greueltaten. Um eine Hungersnot herbeizuführen, werden Bewässerungssysteme und Brunnen zerstört, Vieh getötet und Obstbäume gefällt. Den Überlebenden blieb nur die Flucht in den Tschad, wo viele sterben oder in Flüchtlingslagern in einem Zustand der Schwäche und Hilflosigkeit darben.

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Mit Hilfe militärischer Gewalt muß der Druck auf alle am Konflikt beteiligten Parteien im Sudan verstärkt werden. Allein der Einsatz von Nato-Truppen oder einer Koalition der Willigen kann sie zu der Einsicht bringen, daß mit Krieg immer weniger zu erreichen ist.

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Nach monatelangem Händeringen und feierlichen, aber nichtssagenden Erklärungen handelten die Vereinten Nationen Anfang Mai endlich ein Friedensabkommen zwischen Khartum und der größten Rebellenfraktion der Sudanesischen Befreiungsarmee (SLA) aus. Nicht nur haben die übrigen arabischen Stämme die Unterzeichnung bislang verweigert, zudem sind zwischen ihnen Kämpfe ausgebrochen, die zum Teil von Khartum aus gezielt provoziert werden, um die Gewalt in Darfur gegenüber der Weltöffentlichkeit als Rivalität der Stämme untereinander darstellen zu können.

Bis zum Eintreffen einer Uno-Friedenstruppe sollen 7.000 Soldaten der Afrikanischen Union (AU) über die Einhaltung der Übereinkunft wachen. Doch die Dschandschawid sind der AU-Truppe zahlenmäßig und waffentechnisch haushoch überlegen. Diese kann gegen die fortgesetzten Vergewaltigungen und Plünderungen wenig ausrichten, sondern der Uno lediglich Bericht erstatten, wenn es zu spät ist.

Hunderttausende sind in den USA bereits auf die Straße gegangen, um gegen den Völkermord in Darfur zu demonstrieren. Die Bush-Regierung erwägt Sanktionen und legt zumindest in ihrer Rhetorik Härte an den Tag. Die USA, Kanada und die Europäische Union haben der AU finanzielle und militärische Unterstützung gewährt, die jedoch kaum mehr ist als ein Tropfen auf den heißen Stein. Ein lautstarker Protest war aus dem ansonsten so friedensversessenen Europa ebensowenig zu vernehmen wie anderswo auf der Welt. Die Chinesen lehnen ein entschlossenes Durchgreifen aus Furcht um ihre Erdölverträge mit dem Sudan ausdrücklich ab. Auch die Russen haben keine Lust zu helfen: Die russisch-amerikanischen Beziehungen haben sich merklich abgekühlt, seit die USA im letzten Jahr Kritik an der Verletzung demokratischer Rechte in Putins Russischer Föderation sowie deren Nachbarstaaten zu üben begannen.

Daß schöne Worte, Sanktionen und moralische Empörung nicht ausreichen werden, um den Völkermord zu beenden, den Flüchtlingen die Heimkehr und humanitären Organisationen unbehinderte Arbeit zu ermöglichen, die Schuldigen an Verbrechen gegen die Menschheit vor Gericht zu stellen und schließlich die Bodennutzungsrechte im Sudan zu klären, wird immer offensichtlicher. Mit Hilfe militärischer Gewalt muß der Druck auf alle am Konflikt beteiligten Parteien verstärkt werden. Die unterschiedlichen Rebellenfraktionen in Darfur bekämpfen sich gegenseitig, weshalb nur eine von ihnen das jüngste Friedensabkommen unterzeichnete. In der Vergangenheit lagen die Machtverhältnisse in der Region umgekehrt - schwarze Bauern verfolgten die arabischen Nomaden -, deshalb darf eine Intervention weder der einen noch der anderen Seite dazu verhelfen, alte oder neue Rechnungen zu begleichen.

Allein der Einsatz von Nato-Truppen oder einer ähnlichen Koalition der Willigen kann alle Parteien zu der Einsicht bringen, daß mit Krieg immer weniger zu erreichen ist. Viel Waffengewalt würde es nicht erfordern. Der Sudan ist ein karges Land von der Größe Frankreichs, dessen Territorium eine einzige Hauptstraße durchquert. Zu einem Massenaufstand wie im Irak wird es dort nicht kommen. Die Kombattanten dieses Konflikts sind primitiv bewaffnet und organisiert.

In Ruanda vermochte das Auftauchen bewaffneter Uno-Friedenstruppen - so sie sich tatsächlich blicken ließen - die extremistischen Hutu in die Flucht zu schlagen und der Gewalt ein Ende zu bereiten, wie die Menschenrechtsexpertin Samantha Powers in ihrem Buch "A Problem from Hell. America and the Age of Genocide" (New York, 2002) berichtet. Auch damals waren die Uno-Truppen jedoch in der Unterzahl. Das Massaker ging weiter, während die Welt zuschaute und abwartete.

In der Vergangenheit haben Drohungen im Sudan durchaus Wirkung gezeigt: Nachdem Bill Clinton 1996 Sanktionen gegen Khartum verhängte, wurden Osama bin Laden und seine Mudschaheddin des Landes verwiesen. Inzwischen hat die US-Regierung viel an Glaubwürdigkeit eingebüßt, seit die Besetzung des Irak zu bürgerkriegsähnlichen Zuständen geführt hat und die Unterstützung für den Krieg auch in der eigenen Bevölkerung stetig schwindet.

Wenn die USA einen neuen Krieg begönnen, müßten sie zweifellos mit kritischen Reaktionen der Weltöffentlichkeit rechnen. Dieser Umstand entbindet sie weder von ihrer moralischen Verpflichtung, noch hätte George W. Bush dabei etwas zu verlieren. Der Einsatz amerikanischer Macht zu humanitären Zwecken diente als Rechtfertigung, Saddam Husseins brutale Terrorherrschaft über die irakische Gesellschaft zu beenden. In Darfur wäre zum einen die Wahrscheinlichkeit weit größer, daß der Einsatz von Waffengewalt Erfolg hätte, zum anderen gibt es weit weniger geopolitische Komplikationen, an denen wachsame Verschwörungstheoretiker ihre Thesen über die angeblichen globalen Herrschaftsbestrebungen der USA aufhängen können.

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Man kann sich der deprimierenden Schlußfolgerung nicht entziehen, daß Darfur in die Geschichtsbücher eingehen wird als ein neuerliches Beispiel dafür, wie die vielbeschworene "internationale Gemeinschaft" bei der Lösung eines Problems kläglich versagte.

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Auch der unzureichend durchdachte "Krieg gegen den Terror" steht dem Bestreben im Wege, in Darfur die notwendigen Maßnahmen zu ergreifen. Statt die Verhaftung von Kriegsverbrechern in Khartum zu fordern, flog die CIA einen solchen, nämlich den sudanesischen Geheimdienstchef Saleh Abdallah Gosh, im April 2005 mit einem Privatflugzeug nach Langley, Virginia, in ihr Hauptquartier. Gosh, der zu den Hauptverantwortlichen für den Völkermord in Darfur zählt, arbeitete bereits in den 1990er Jahren, als Osama bin Laden seinen Heiligen Krieg noch vom Sudan aus führte, für den Geheimdienst. Die Informationen, die er der CIA gab, waren vermutlich alt und nutzlos. Geradezu schizophren wollen sich jedoch die USA den Sudan als Verbündeten im Krieg gegen den Terror erhalten, ohne ihn von der Liste derjenigen Staaten zu streichen, die den Terrorismus unterstützen. Zudem macht sich die Bush-Regierung Sorgen um ein Abkommen vom Januar 2005, das im fortdauernden sudanesischen Bürgerkrieg einen fragilen Frieden zwischen dem Norden und dem Süden schuf. Dieses Abkommen liegt Bushs evangelikaler Wählerschaft besonders am Herzen, weil im Süden des Sudan Christen leben.

Man kann sich somit der deprimierenden Schlußfolgerung nicht entziehen, daß Darfur in die Geschichtsbücher eingehen wird als ein neuerliches Beispiel dafür, wie die vielbeschworene "internationale Gemeinschaft" (Applaus, Applaus!) bei der Lösung eines Problems kläglich versagte. Die moralischen Kosten sind eindeutig: das Böse siegen zu lassen, obwohl die Mittel, ihm Einhalt zu gebieten, wohlbekannt und in Reichweite waren. Daß der Westen seine moralische Autorität und seinen Willen zum Handeln verloren hat, ist Anzeichen einer Art von kolonialer Mentalität - nicht etwa jener, die momentan in abgedroschenen Anspielungen auf die imperiale Hybris der Vergangenheit so oft bemüht wird, sondern einer neuen, zeitgenössischen Form, eines apathischen Überdrusses seitens der Mächtigen, wenn die Opfer arm sind und außenpolitisch so wenig auf dem Spiel steht.

 

Prof. Dr. Elliot Neaman lehrt Neuere europäische Geschichte an der University of San Francisco. In der JF 13/06 schrieb er zum Thema Irak-Krieg: "Sorry, wir haben uns geirrt"


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