© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 29/06 14. Juli 2006

CD: Klassik
Zwei Macher
Jens Knorr

Wir sollten im Mozart-Jahr mehr Haydn hören. Haydn hat Mozarts Bedeutung als erster und von den Zeitgenossen wohl einziger ganz erfaßt. Er hat von dem Jüngeren gelernt wie der Jüngere von ihm. Das Rondo-Finale der ersten Londoner Symphonie, Nr. 93, zitiert in der Coda Mozarts "Viva la libertà!" aus Mozarts "Giovanni". Bei Mozart hatten alle Figuren, die sich auf Giovannis Fest begegneten, die Freiheit hochleben lassen - ein jeder die eigene. Ein Leben wie das Haydns, der widrigen Umständen die höchstmögliche künstlerische Produktion abzutrotzen suchte und dabei nicht zu leben vergaß, ein richtiges Leben im falschen also, hat Leopold Mozart seinem Sohn gewiß gewünscht, erzwingen konnte er es freilich nicht.

"Das Wesen der Musik", sagt der Dirigent Hermann Scherchen, "ist ein: 'Positives'." Wollen wir das Wesen der Haydnschen Symphonik erfahren, sollten wir die legendären Aufnahmen hören, die Scherchen Anfang der fünfziger Jahre für die Westminster Record Company gemacht hat. Ihre Wiederveröffentlichung auf CD ist ein Glücksfall (Deutsche Grammophon 471 256-2). Der entschiedene Sachwalter neuer Musik war, wen wundert's, ein kompetenter Sachwalter Haydns bereits zu einer Zeit, als der noch als "Papa" Haydn verschrien war und seine Symphonien als Warm-up für Solokonzert und abschließende Großsymphonie in den Konzertsälen herhalten mußten. Dabei hat Scherchen auch seine eigenen Programme so aufgebaut, und falsch ist es ja keinesfalls, den Weltkomponisten aus der Provinz an den Anfang zu setzen. Denn Haydns Symphonik markiert einen Anfang. Mit den Symphonien der sechziger und siebziger Jahre beginnt sich Haydn von den barocken Schemen radikal zu lösen, führt die Antithetik zweier Themen in den Mittelteil der Sonate ein und schafft nicht weniger als die klassische Sonatenhauptsatzform; in den zwölf Londoner Symphonien dehnt er die Durchführungsarbeit auf alle Teile des Symphoniesatzes aus, probiert in den Finalsätzen die Synthese von Rondo- und Sonatenform, experimentiert mit den Mittelstimmen, mit dem kontrastierenden Einsatz von Instrumenten und bindet außermusikalische Ideen in das musikalische Experiment ein.

All das macht Scherchen in seinem vehementen, zuweilen arg verschwitzten Plädoyer für den großen Neuerer Haydn hörbar, lange bevor sich die Vertreter der Originalklangbewegung von der Musik des Barock und der Renaissance aus zur ersten Wiener Klassik vorarbeiten werden. Ein ausgezeichneter Einführungsartikel von Bernhard Uske im Beiheft macht Scherchens Anfänge transparent.

Unter Scherchens Leitung musizieren die Wiener Symphoniker und ein unter dem Namen Vienna State Opera Orchestra firmierender Klangkörper, der sich laut Uske vor allem aus Musikern der Wiener Volksoper zusammensetzte, überaus gestisch, zuweilen exzentrisch, "Trauer-" (Nr. 44) und "Abschiedssymphonie" (Nr. 45), "La Passione" (Nr. 49) und "Schulmeister" (Nr. 55), Nr. 80 und 88, leider keine der Pariser, dafür aber die bereits vor der ersten Londonreise geschriebene "Oxford-Symphonie" (Nr. 92) und die Londoner Symphonien (Nr. 93-104) komplett.

Scherchen läßt es im Allegretto der "Militärsymphonie" (Nr. 100) mit Bläsern, Triangel, Becken und Großer Trommel so richtig krachen, dehnt in der Nr. 88 das Tempo des Largos ins Unendliche und läßt sich die Musiker im letzten Satz der "Abschiedssymphonie" - Uske: "die erste musiktheatralische Performance der Musikgeschichte" - einer nach dem andern beim Abgang vom Podium artig verabschieden: "Auf Wiedersehen."

Scherchens Haydn ist, weil er originell ist, authentisch. In Haydn hat Scherchen den Gleichgesinnten erkannt, der Macher den Macher.


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