© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 29/06 14. Juli 2006

Deutschland geht in Rente
von Jost Bauch

Unsere Gesellschaft ist auf Wachstum programmiert. Wenn es etwas gibt, was die einzelnen Teilsysteme unserer Gesellschaft eint, dann ist es die gemeinsame Orientierung auf Wachstum. Wachstum ist im Grunde das Leitmotiv der modernen Gesellschaft, die es als säkularisiertes Glücksversprechen kultiviert. Die Wachstumsdynamik erfaßt dabei nicht nur das materielle Warenangebot, sie ist konstitutiv für die allgemeine Steigerung der Erlebens-, Lebens- und Handlungsmöglichkeiten schlechthin. Peter Gross schreibt dazu: "Die Wachstumsdynamik ist unendlich, weil die Steigerung von Handlungsmöglichkeiten zum sogenannten Wohl aller das letztendliche und von allen geteilte Ziel darstellt. Alle Systeme, Wirtschaft, Politik, Kultur und Wissenschaft - bis hinunter zum einzelnen Individuum - verfolgen Wachstums- und Steigerungsziele. Die infinitive Erzeugung neuer Möglichkeiten erzeugt immer neue Differenzen. Die neuen Differenzen führen zu immer neuen Ansprüchen. Immer mehr Möglichkeiten - immer mehr Wünsche."

Doch was passiert, wenn dieser Steigerungskreislauf ins Stocken gerät? Wenn es statt vorwärts rückwärts geht? Wenn die Evolution zur Involution wird und eine allgemeine gesellschaftliche Rückwärtsentwicklung einsetzt? Wir können uns das eigentlich gar nicht richtig vorstellen, weil wir durch die prosperierenden Nachkriegsjahrzehnte die Wachstumsideologie völlig verinnerlicht haben. Was haben wir zu erwarten, wenn die Bundesrepublik sich von einem industriellen Zentrum zur Peripherie zurückentwickelt, wenn die Einwohnerzahl, das Bruttosozialprodukt, die Löhne sinken und Massenarmut zum Kennzeichen dieser Gesellschaft wird?

Wir sind diesbezüglich völlig unvorbereitet und die Sozialwissenschaften, die hier ein sinnvolles Tätigkeitsfeld finden könnten, stecken bis auf wenige Ausnahmen den Kopf in den Sand und befassen sich lieber mit zeitgeistigen Detailproblemen wie sozialer Ungleichheit in der Frauengesundheit.Dabei liegt das Anschauungsmaterial schon direkt vor uns! Wir brauchen uns nur die soziale, demographische und wirtschaftliche Lage eines Landes wie Sachsen-Anhalt vor Augen zu führen, um zu erahnen, was zeitversetzt und lokal diversifiziert, der ganzen Republik droht.

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Die "nivellierte Mittelstandsgesellschaft" zerfällt endgültig. Es entsteht eine Zwei-Klassen-Gesellschaft mit einer kleinen reichen Oberschicht und der breiten, verarmten Unterschicht. Die kleine "präkere" Mittelschicht ist permanent abstiegsgefährdet.

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Dank einer Studie des Berlin-Instituts für Bevölkerung und Entwicklung ("Die demographische Lage der Nation. Wie zukunftsfähig sind Deutschlands Regionen?") können wir in der Gegenwart durch die Betrachtung solcher Länder wie Mecklenburg-Vorpommern oder eben Sachsen-Anhalt gleichsam die Zukunft für weite Regionen (auch des Westens, Beispiel Ruhrgebiet) erahnen. Sachsen-Anhalt ist in diesem Sinne eine Modellregion für Deutschlands Zukunft. Schon heute ist die Lage des Landes desaströs: 17.000 Menschen wandern pro Jahr aus diesem Bundesland ab, man geht von einem weiteren Bevölkerungsverlust von 13 Prozent bis 2020 aus. Alte Industriestädte wie Bitterfeld oder Dessau werden bis 2020 ein Fünftel ihrer Einwohner verlieren. Die Rede ist mittlerweile vom "Raum ohne Volk". Die verbleibende Bevölkerung ist völlig "überaltert": Schon jetzt ist nur ein Viertel der Bevölkerung der Bevölkerung jünger als 26 Jahre, und dreißig Prozent sind über sechzig. Bis 2020, so die Prognose des Berliner Instituts, wird der Anteil der unter 26jährigen auf zwanzig Prozent gefallen und der der über 60jährigen auf 35 Prozent gestiegen sein. Seit der Wiedervereinigung ist die Zahl der Erwerbstätigen um 21 Prozent gesunken, die Arbeitslosenquote erreicht in einigen Kreisen bereits Werte von über 26 Prozent. Das Land ist mittlerweile völlig überschuldet. Von dem Ausgabevolumen von zehn Milliarden Euro des Landes können nur vierzig Prozent durch eigenes Steueraufkommen finanziert werden. In nur 14 Jahren hat das Land Verbindlichkeiten in Höhe von mehr als 18 Milliarden angehäuft.

Rechnet man die Verbindlichkeiten des Landes und der Gemeinden zusammen, so ist jeder Bürger Sachsen-Anhalts - vom Säugling bis zum Greis - mit 8.600 Euro verschuldet. Dabei ist absehbar, daß in wenigen Jahren durch das Auslaufen des Solidarpakts II und der Kürzung von EU-Zuschüssen dem Land nur noch sechs Milliarden Euro zur Verfügung stehen werden - der Staatsbankrott auf Landesebene. Mittlerweile ist aus dem "Aufbau Ost" der "Rückbau Ost" geworden. In Sachsen-Anhalt stehen 230.000 Wohnungen leer, ein Sechstel des Gesamtbestandes.Zwischen 1992 und 2004 mußten 571 Schulen geschlossen werden. Die Gemeinden befassen sich mit dem Problem der "schlanken Stadt", indem ganze Infrastruktureinrichtungen und große Flächen "aus dem urbanen Sy-stem entlassen werden", wie es im Bürokratendeutsch heißt. Die Verheißung von den "den blühenden Landschaften" wird so durch den Rückbau der Urbanität zynische Realität.

Der Zukunftsforscher Horst W. Opaschowski hat sich anhand empirischer Daten in einem "wissenschaftlich abgesicherten Zukunftsreport" mit der Zukunft Deutschlands bis zum Jahr 2020 befaßt. In neun Punkten faßt er zusammen:

l Im Deutschland des Jahre 2020 gibt es 2,5 Millionen weniger Erwerbstätige als heute.

l Die Anzahl der Beitragszahler, die einen Rentner finanzieren müssen, geht von derzeit 4,0 auf 2,9 zurück.

l Die durchschnittliche Rentenbezugsdauer verdoppelt sich von zehn (1960) auf zwanzig Jahre.

l Das Rentenniveau sinkt von 53 Prozent auf 46 Prozent.

l Die Zahl der Zuwanderer wächst um über drei Millionen, was einer Nettozuwanderung von mindestens 200.000 pro Jahr entspricht.

l Der Trend der Alterung der Gesellschaft verstärkt sich mit fünf Millionen über 80jährigen ( heute drei Millionen), davon die Hälfte pflegebedürftig und ein Drittel an Demenz erkrankt.

l Im Jahr 2020 sterben 400.000 Personen mehr, als geboren werden. Von 2020 bis 2040 wird die ansässige deutsche Bevölkerung vier Millionen Menschen verlieren.

l Es kommt zu einem Einbruch des Wirtschaftswachstums, das bisherige Wohlstandsniveau kann nicht gehalten werden. Armut breitet sich auf leisen Sohlen aus, jedes zehnte Kind wird unter Armutsbedingungen aufwachsen, ein Großteil des Mittelstandes wird permanent in einem absturzgefährdeten "prekären Wohlstand" leben. Es entwickeln sich "Subökonomien" (unmittelbare Tauschwirtschaft etc.).

Nun kann natürlich keiner treffsicher in die Zukunft blicken außer "Spökenkiekern" und Berufspolitikern, die permanent die Gegenwart zukunftssicher machen wollen. Gleichwohl lassen sich auf soziostruktureller Ebene Begleitphänomene des gesellschaftlichen Niedergangs ausmachen, die sich in Ansätzen in der Gegenwart abzeichnen. Man sollte diese Phänomene unter sechs Stichworten zusammenfassen:

Exklusionsverkettungen: Der Begriff stammt von Niklas Luhmann und bezeichnet den Sachverhalt, daß immer mehr Menschen durch relative und absolute Verarmung von der Teilhabe an den großen gesellschaftlichen Funktionssystemen wie Wirtschaft, Politik, Gesundheitswesen, Kulturbetrieb etc. ausgeschlossen werden. Die Exklusion aus dem Wirtschaftssystem durch Arbeitslosigkeit zieht gleichsam den Ausschluß von der Teilhabe an anderen Sozialsystemen nach sich, der Ausgeschlossene führt eine soziale Existenz unterhalb der gesellschaftlich ausdifferenzierten Teilsysteme. Er ist so im Grunde kein gesellschaftlicher Bedeutungsträger mehr, er wird zu einem nur noch biologischen Wesen (Körper) degradiert, dem ein Mindestmaß an Nahrung, Wohnung und Unterhaltung (Fernsehen) nach Hartz IV zugestanden wird. Die Gesellschaft leistet sich durch Exklusionsverkettungen eine sozial bedeutungslose Masse, die durch staatliche Mindest-Alimentation ruhiggestellt werden muß. Man muß kein Prophet sein, um vorauszusagen, daß diese Masse stark anwachsen wird.

Segregations- und Separationserscheinungen: Der gesellschaftliche Zusammenhang zerfällt, und die Zugehörigkeit zu einer Nation verliert ihre Bindungskraft. Die "eine" Gesellschaft löst sich auf in Parallelgesellschaften, die nebeneinander und gegeneinander agieren, für ihren Bereich eigene Institutionen ausbilden und sich lokal diversifizieren. So kommt es zu sozialen und ethnisch-kulturellen Ghettos und Einflußbereichen. In den Städten bilden sich "no-go areas" aus, die von allen dort nicht Ansässigen gemieden werden. Darüber hinaus zerfällt die multikulturelle Stadt in unterschiedliche ethnische und kulturelle Einflußbereiche mit bewachten Wohnvierteln für Reiche und einem öffentlichen Restraum, der für alle einigermaßen zugänglich ist. Vornehmlich auf dem Lande entstehen "ethnische Wagenburgen" der alteingesessenen Bevölkerung, die sich so gegen die städtische Multikultur abschottet. Es entstehen für die unterschiedlichen ethno-kulturellen Gruppen eigene Korporationen, Vereine und Institutionen, die ehemals staatliche Aufgaben wahrnehmen und die Interessen ihrer Klientel vertreten. In den Problemvierteln ist eine Zunahme tribaler Strukturen zu beobachten, informelle Clans sichern ihre Einflußbereiche. Insgesamt kommt es zu einer starken lokalen Differenzierung der allgemeinen Lebensverhältnisse, der öffentliche Raum schrumpft.

Zerfall des Mittelstandes: Die "nivellierte Mittelstandsgesellschaft" (Helmut Schelsky) zerfällt endgültig. Im Entstehen begriffen ist eine Zwei-Klassen-Gesellschaft mit einer kleinen aber reichen Oberschicht, die aus Unternehmern, Globalisierungsgewinnlern und privilegierten Verbands- und Politfunktionären besteht. Zwischen diese und die breite, weitgehend verarmte Unterschicht schiebt sich noch eine kleine Mittelschicht, die im "prekären Wohlstand" - also permanent abstiegsgefährdet - lebt.

Entstehung einer Schatten- und Subökonomie: In Deutschland macht die Schattenwirtschaft bereits 16 Prozent des Bruttoinlandsproduktes aus, dieser Anteil wird kontinuierlich steigen. Neben dem ersten Arbeitsmarkt entwickelt sich eine Schatten- und Subökonomie, eine "economie parallele", die auf unmittelbaren Tauschbeziehungen beruht. Zu unterscheiden ist in diesem Zusammenhang zwischen der subsi-stenzwirtschaftlichen Selbstversorgungswirtschaft für den Eigenbedarf oder auf Gegenseitigkeit, der Schattenwirtschaft mit "Grauarbeit" als nebenberufliche Beschäftigung von geringem Umfang (Babysitten, Gartenarbeit, Nachhilfe) und der Untergrundwirtschaft mit illegaler Beschäftigung und Geldwäsche in erheblichem Umfang. Alle Formen dieser Subökonomie werden kräftig an Bedeutung zulegen. Die soziale Sicherung wird zunehmend nicht nur durch die formalisierten Systeme der Kranken- und Rentenversicherung erfolgen. Familiale Netzwerke und sogenannte "Wahlverwandtschaftsfamilien" werden in der Alterssicherung wieder eine größere Rolle spielen. Die unterschiedlichen ethnokulturellen Gruppen werden eigene Organisationen für die Versorgung ihrer Klientel mit eigenen ethnisch-kulturell homogenisierten Versorgungseinrichtungen ins Leben rufen.

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Die soziale Sicherung wird zunehmend nicht mehr nur durch die Systeme der Kranken- und Rentenversicherung erfolgen. Familiale Netzwerke und sogenannte "Wahlverwandtschaftsfamilien" werden in der Alterssicherung wieder eine größere Rolle spielen.

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Verteilungskämpfe verschiedener ethnischer und kultureller Gruppen: Um die Verteilung des (restlichen) gesellschaftlichen Wohlstandes wird es auf verschiedenen Ebenen zwischen den multikulturellen Gruppen regelrechte Verteilungskämpfe geben. In multikulturellen Gesellschaften werden ökonomische Verteilungsprobleme sehr schnell politisiert. Wirtschaftlicher Erfolg oder Mißerfolg wird sehr schnell kollektiv zugeschrieben, dieser liegt sofort an kollektiven Merkmalen wie Hautfarbe, religions- oder Kulturzugehörigkeit. Es kommt zu einer Kontingentierung und Quotierung des gesellschaftlichen Reichtums in bezug auf die einzelnen sich politisch artikulierenden ethnisch-kulturellen Gruppen. Es entstehen politische Institutionen, die diese öffentliche Verteilung für die einzelnen Gruppierungen regeln. Unterhalb dieser politisch formalisierten Regelungen kommt es darüber hinaus zu handfesten Verteilungskämpfen der einzelnen Gruppen untereinander bis hin zu Aufständen nach dem Muster der Pariser Vorstädte, um die Alimentierungsquote zu erhöhen.

Entstaatlichung des gesellschaftlichen Lebens: Der Staat wird durch Überschuldung in weiten Bereichen handlungsunfähig. Staatsaufgaben verlagern sich bis auf einen Kernbestand auf gesellschaftliche Vereinigungen, Gruppen und Clans, die in ihrem Einflußbereich teilweise polizeiliche und infrastrukturelle Maßnahmen organisieren. Für die Sicherheit bilden sich unterschiedliche Bürgerwehren mit lokal begrenzter Reichweite. Die staatlich garantierte relative Einheitlichkeit der Lebensverhältnisse weicht einer Patchwork-Struktur der Gesellschaft.

Man kann nicht alles, was uns solchermaßen als absehbare Zukunft erwartet, negativ bewerten. Die Stärkung der subsistenzorientierten Lebensformen, die Zunahme der Selbsthilfe usw. sind durchaus positiv zu vermerken. Gleichwohl stehen viele Evolutionsgewinne moderner Gesellschaften und des demokratischen Verfassungsstaates auf dem Spiel: funktionale Differenzierung, staatliche Gewährleistung von Sicherheit, soziale Sicherheit, Bewegungsfreiheit, annähernd gleiche Lebensverhältnisse. Es bewahrheitet sich zunehmend das Diktum von Niklas Luhmann: "Die Einheit der Gesellschaft ist deren Differenz." Natürlich, so bleibt zu hoffen oder zu befürchten, kann auch alles ganz anders werden.

 

Prof. Dr. Jost Bauch lehrt Soziologie an der Universität Konstanz. Auf dem Forum der JUNGEN FREIHEIT schrieb er zuletzt zum Thema "Die manipulierte Massse" (JF 23/06)

 

Bild: Albrecht Dürer, "Dürers Mutter", Kohlezeichnung 1514: Die unaufhaltsame Alterung wird der Gesellschaft jegliche Dynamik rauben


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