© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 30/06 21. Juli 2006

Nahostkonflikt
Der archimedische Punkt
Dieter Stein

Der archimedische Punkt ist ein angenommener 'absoluter Punkt' außerhalb eines Versuchsaufbaus, der insbesondere unveränderbar und daher fest verankert als Hebelpunkt dienen könnte. Der archimedische Punkt hat seinen Namen von der Aussage Archimedes', er könne 'ganz alleine die Erde anheben, wenn er nur einen festen Punkt und einen ausreichend langen Hebel' hätte." So erklärt dies die Internet-Enzyklopädie Wikipedia.

Israel ist der archimedische Punkt der Weltpolitik. Wer glaubt, der Nahostkonflikt, der sich derzeit wieder anschickt zu einem Flächenbrand der ganzen Region zu werden, sei damit zu lösen, daß man beide Seiten mit Friedensappellen besänftigt, Geiseln austauscht und UN-Blauhelme im Südlibanon postiert, täuscht sich. Palästina und Israel sind aneinander gebunden wie siamesische Zwillinge. Immer wieder kommen sie sich ins Gehege, schlagen beide um sich, bis sie blutend am Boden liegen. Man kann jedes Abendessen sprengen, indem man eine Diskussion darüber eröffnet, wer eigentlich schuld ist, wer den ersten Stein, die erste Handgranate geworfen, die erste Rakete gezündet hat. Ein Glaubenskrieg.

Zu einer weltpolitischen Affäre wird der Nahostkonflikt dadurch, daß alle Weltmächte ihre Interessen in dieser Region betroffen sehen. Daß Palästinenser nicht hinnehmen wollen, daß der Staat Israel gegen ihren Willen auf ihrem Land gegründet wurde und sie vertrieben und mittlerweile in einer Art Reservat mittels einer meterhohen Betonmauer eingekesselt hat, ist das eine. Damit wäre der Konflikt ein lokaler. Israel ist wiederum nicht einfach nur ein Staat einer örtlichen, angestammten Ethnie. Es ist Kind Europas, von vertriebenen und ausgewanderten Juden gegründet und mit den USA so eng verbunden, als sei es der 51. Bundesstaat der größten Weltmacht. Und die USA haben deutlich gemacht, daß sie Israels Interessen verteidigen wie die eigenen. Deshalb wurde auch die Etablierung Israels als Atommacht geduldet, während man diese Waffe dem Iran vorenthält.

Die arabischen Staaten wiederum haben Israel immer als Fremdkörper angesehen, der ihnen als Kuckucksei des Westens ins Nest gelegt wurde. Sie sehen damit Israel als die weiche Flanke des Westens, sein von Haßliebe begleitetes Stiefkind, an dem der Westen, voran die USA, immer wieder zu treffen ist. Und es wird als nicht hinnehmbar angesehen, daß die USA ihre Präsenz in der Region mittels einer Salamitaktik schrittweise immer weiter ausbauen. Die US-Armee steht in Saudi-Arabien, in Kuweit, im Irak, in Afghanistan. Die Schlinge zieht sich immer enger um die Staaten, die über die reichsten Ölvorkommen der Welt verfügen. Damit steigt aber auch der Druck im islamischen Kessel.

Europa ist uneinheitlich in seiner Haltung. Brüssel überläßt den USA das Handeln und beschränkt sich darauf, von der israelischen Armee zertrümmerte Infrastruktur in den Palästinen-sergebieten mit Steuermillionen immer wieder neu aufzubauen. Dann wird erneut weggeschaut. Bis zum nächsten Zwischenfall. Die USA wollen die Vormacht in der Region. Israel will nicht auf besetzte Gebiete verzichten. Die arabischen Völker fühlen sich gedemütigt und erzeugen demographischen Druck. Die Welt blickt irritiert auf ihren archimedischen Punkt. 


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