© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 30/06 21. Juli 2006

"Das Ansehen des Landes muß bewahrt werden"
Interview: Der ukrainische Vizewirtschaftsminister Pyatnytskiy spricht über Energiefragen, EU-Perspektiven und Tschernobyl
Lubomir T. Winnik

Das Land kann sich den Luxus von Neuwahlen nicht erlauben", warnte letzten Samstag der ukrainische Staatspräsident in einer Rundfunkansprache. Ein neuerlicher Wahlkampf würde "die Lähmung des Landes verstärken und die Aufnahme in die Welthandelsorganisation verzögern". Viktor Juschtschenko rief die beiden verfeindeten Parteienblöcke im Parlament - die westlich orientierten "Orangenen" und die prorussischen "Blauen" - auf, bis zum 25. Juli eine neue Regierung zu bilden.

Danach kann der Präsident das im März gewählte Parlament auflösen und Neuwahlen ausschreiben. Bis Juni verhandelten die drei "orangenen" Parteien erfolglos über eine Koalition, Anfang Juli wechselten die Sozialisten (SPU) ins "blaue" Lager, SPU-Chef Alexander Moros wurde zum Parlamentspräsidenten gewählt. Juschtschenkos Gegenspieler Viktor Janukowitsch von der Partei der Regionen hätte zusammen mit SPU und Kommunisten eine Regierungsmehrheit. Gleichzeitig gibt es Spekulationen über eine "Große Koalition": Der seit Januar 2006 amtierende Ministerpräsident Jurij Jechanurow könnte sich mit seinen Anhängern von der Juschtschenko-Partei "Unsere Ukraine" (NU) abspalten und mit Janukowitsch koalieren.

Die Regierungsgeschäfte müssen dennoch weitergehen - die Probleme des Landes dulden keinen Stillstand. Einer der daran einen großen Anteil hat, ist Valeriy Pyatnytskiy. Denn "unabhängig davon, welche aktuelle Regierungsmannschaft ein Land regiert, das Ansehen des Landes muß bewahrt werden", meint der 44jährige. Der für die europäische Integration zuständige Vizewirtschaftsminister gab der JUNGEN FREIHEIT ein Interview zu Fragen jenseits der aktuellen Innenpolitik.

Entscheidung im Dreieck Rußland-Ukraine-Europa

Herr Minister, auf dem G8-Gipfel in St. Petersburg war die Energiefrage eines der wichtigsten Themen. Doch schon der ukrainisch-russische "Gaskrieg" von Anfang 2006 (JF 2/06) machte klar, daß die Energiesicherheit der Ukraine untrennbar der Europas verbunden ist. Wie sehen Sie die Zusammenarbeit mit der EU in Fragen der Energielieferungen?

Pyatnytskiy: 80 Prozent des russischen Erdgases für die EU-Länder werden durch die ukrainischen Pipelines transportiert. Aber nicht der Ukraine steht es zu, darüber zu bestimmen, ob die Europäer frieren werden oder nicht. Das Problem liegt nicht bei uns, sondern alles wird im Dreieck Rußland-Ukraine-Europa entschieden. Und die Spielregeln dazu versucht selbstverständlich der Monopollieferant zu diktieren. Unser Land konsumiert außer dem russischen und eigenen auch noch turkmenisches Erdgas, welches über russisches Gebiet geleitet wird. Deshalb kann unser Verhalten als Transitland nicht unbedacht sein, denn dies würde entsprechende Antworten nach sich ziehen. Aber: Bei Ihnen stieg der Erdgaspreis stufenweise. Uns hingegen offerierte Rußland zum Jahresbeginn einen sofortigen Preisaufschlag von 50 auf 230 Dollar! Zum selben Zeitpunkt kostete das Erdgas in Deutschland nur um 200 Dollar. Das ist keine Ökonomie, das ist Politik.

Der deutsche Altkanzler und gegenwärtige Vorsitzende des Aktionärrates der Ostsee-Gaspipeline (JF 38/05), Gerhard Schröder, hat gefordert, daß aus Gründen der Energiesicherheit die durch die Ukrai-ne fließende Erdgasmenge reduziert werden müsse. Was halten Sie davon?

Pyatnytskiy: Selbst wenn die Nordgaspipeline in Betrieb gehen sollte, findet keine wesentliche Reduzierung des durch unser Territorium transportierten Gasvolumens statt. Denn der Gasverbrauch, insbesondere im Winter, wird markant zunehmen, ohne ein kontinentales Transitland kommt man hier kaum aus.

Anders als Rußland verfügt die Ukrai-ne nicht über ausreichend Energieträger. Welche Schritte plant Ihr Land, um die negativen Auswirkungen der Preissteigerungen auf die Wirtschaft abzumildern?

Pyatnytskiy: Zu Sowjetzeiten wurden die ukrainischen Erdgasvorkommen rücksichtslos ausgebeutet. Von diesem Raubbau profitierten damals alle Sowjetrepubliken. Bis in die siebziger Jahre verbrauchte der europäische Teil der Sowjetunion ausschließlich unser Erdgas. Als in Sibirien die Erdgasvorkommen erschlossen wurden, arbeiteten dort mehrheitlich Fachkräfte aus der Ukraine. Heute decken unsere eigenen Energieressourcen nur noch knapp 30 Prozent des Landesbedarfs. Daher verfolgen wir eine Doppelstrategie: Einerseits bauen wir die eigene Gasförderung aus und schaffen dazu günstige Bedingungen für ausländische Investoren. Immerhin schätzt man unser Erdgaspotential auf rund fünf Trillionen Kubikmeter. Zweitens werden wir die Kohle-Nutzung optimieren, etwa durch die Verwendung von Steinkohlenstaub anstelle von Gas. Die Raffinerien werden rekonstruiert, um die Verarbeitung von Rohöl zu verbessern. Die Einführung von Energiespartechnik ist ebenfalls nützlich. Außerdem wollen wir den Ausbau von Transitstrecken für Importgas außerhalb des russischen Staatsgebietes voranbringen.

Sie wollen günstigere Bedingungen für Investoren schaffen. Doch die werden oft von der grassierenden Korruption im postso-wjetischen Raum abgeschreckt.

Pyatnytskiy: Wir sind uns der Gefahren der Korruption durchaus bewußt. Besonders unter den Bedingungen des wirtschaftlichen Umbruchs, einer schwachen Zivilgesellschaft und eines unterentwickelten Rechtssystems.

Was sind die Ursachen?

Pyatnytskiy: Siebzig Jahre Totalitarismus lassen sich nicht wie ein durchgelesenes Buch schließen. Der freie Markt bietet nicht nur große Möglichkeiten, sondern auch große Versuchungen. Unsere marktwirtschaftliche Gesetzgebung bauten wir von Null an auf. Natürlich fanden wir dazu nicht sofort die richtige Formel. Mangelnde öffentliche Kontrolle, schwache Medien, Richter mit "sowjetischer" Erfahrung (andere gab es nicht), da ist es nicht schwierig, den Korruptionsbazillus zu erwischen. Internationale Experten bescheinigten der Ukraine, das niedrigste Korruptionsniveau im postsowjetischen Raum zu haben. Unser Staat setzt neue Gesetze in Kraft. Die Zivilgesellschaft reift, die Gerichte und Staatsanwälte gewinnen Neutralität, die ukrainischen Medien werden wach. Wir befinden uns auf dem richtigen Weg.

Die Ukraine war einer der wichtigsten Industriestandorte im Warschauer Pakt, sie verfügte über großes wissenschaftliches Potential. Was ist davon geblieben?

Pyatnytskiy: In der Ukraine wurde der bedeutendste Teil der Weltraum- und Luftfahrtprojekte ausgearbeitet, mit welchen sich die Sowjetunion einmal gebrüstet hat. In Kiew wurde Europas erster elektronischer Rechner entwickelt und gebaut. Die Ukraine ist nach wie vor ein Land mit ansehnlichen wissenschaftlichen Kapazitäten. Unsere Trägerraketen stellen bei internationalen Projekten ihre hohe Zuverlässigkeit ständig unter Beweis. Am 25. Juni brachte unsere Rakete "Cyklon 2" einen russischen Satelliten auf eine Erdumlaufbahn. Eines guten Rufes erfreuen sich sowohl ukrainische Flugzeuge wie auch neue Mehrzwecksatelliten, die in der Ukraine entwickelt worden sind. Bahnbrechend sind etwa Schweißtechnologien an lebendem Gewebe bei chirurgischen Operationen oder Errungenschaften im Bereich der Lasermedizin. Diese Basis gilt es zu bewahren und zu unterstützen.

Ende 2004, zu Zeiten der "Orangenen Revolution" wurde in den westlichen Medien mit viel Sympathie über die Ukraine berichtet. Das weckte Hoffnungen auf einen schnellen Weg Richtung Europa. Doch die EU ist gegen einen raschen Beitritt der Ukraine. Stößt eine solche Haltung Ihr Land nicht in die Arme Moskaus?

Pyatnytskiy: Länder wie Polen, Ungarn, die Slowakei, die baltischen Staaten sowie Schweden unterstützen aktiv eine zukünftige EU-Mitgliedschaft der Ukraine. Insbesondere die "alten" EU-Länder wie Frankreich, Belgien, Italien, Spanien oder die Niederlande befürworten zwar eine Vertiefung der Zusammenarbeit mit uns, lehnen aber eine EU-Mitgliedschaft ab. Die Haltung der dritten Gruppe - Deutschland, Finnland und Griechenland - wird sich im Laufe weiterer Verhandlungen formieren. Für die Ukraine ist die Europa-Orientierung zivilisatorisch artverwandter als die byzantinische oder eurasische. Bereits heute ist die EU unser größter Wirtschaftspartner. Wir bevorzugen europäische Werte und wollen europäische Standards zuallererst für uns selbst. Deshalb stellt die Schweizer Erfahrung mit "bilateralen Verträgen" zur Zusammenarbeit mit der EU eine ungemein wichtige Grundlage hinsichtlich weiterer Verhandlungen für die Ukraine dar.

Die kürzesten Auto- und Bahnverbindungen zum postsowjetischen Raum sowie nach Zentral- und Südostasien führen über die Ukraine. Doch die Infrastruktur ist desolat. Welche Maßnahmen planen Sie, um dem rasant wachsenden Strom des internationalen Transitverkehrs gerecht zu werden?

Pyatnytskiy: Unsere zuständigen Ministerien haben diesbezüglich detaillierte Pläne ausgearbeitet, die bis 2010 realisiert werden müssen. Unser Land soll etappenweise an die internationalen Konventionen und die zwischenstaatlichen Transportverträge herangeführt und angebunden werden. Wir wollen darüber hinaus auch der Internationalen Transport-Organisation (ITO) mit definierten Prioritäten beitreten. Unser Verkehrs- und Straßensystem soll voll integriert werden. Damit werden die Bedingungen für den grenzüberschreitenden Warenverkehr verbessert, gemeinsame Kontrollen gewährleistet, neue "Grüne Korridore" für autorisierte Spediteure geschaffen und internationale Dokumentenstandards eingeführt. Wir wollen unseren Kunden aus West und Ost die Ein- und Ausreise maximal erleichtern und den Service zeitgemäß optimieren.

Am 26. April war der 20. Jahrestag der Reaktorkatastrophe von Tschernobyl. Der 1986 havarierte Reaktorblock ist bislang nur durch einen provisorischen Betonmantel versiegelt. Im Dezember 2000 erfolgte auf Druck der EU die Abschaltung des letzten verbliebenen Reaktorblocks, die Ukraine erhielt dafür Ausgleichszahlungen. Derzeit gibt es widersprüchliche Informationen über die Lage in Tschernobyl. Angeblich sollen die für den Bau eines neuen "Sarkophags" bestimmten Gelder veruntreut worden seien.

Pyatnytskiy: Unsere Zusammenarbeit mit der Europäischen Bank für Wiederaufbau und Entwicklung (EBWE) wird im Rahmen eines Vertrags bezüglich der Aktivitäten der Tschernobyl-Stiftung "Ukryttia" (Schutz) in der Ukraine abgewickelt. Der heutige Projektetat beträgt über eine Milliarde Dollar. Laut Expertenmeinung läßt sich eine wesentliche Verringerung der Gefahr des Unglücksreaktors nur durch bauliche Maßnahmen erreichen, und zwar mit Hilfe einer neuen Schutzhülle. Gegenwärtig läuft das Auswahlverfahren des Bauunternehmens, welches diese Hülle errichten wird. Dieses Verfahren findet nach den Richtlinien der EBWE statt. Die Ukraine verfügt über große Erfahrung in der Zusammenarbeit mit der internationalen Spendengemeinschaft. Ich möchte jedoch betonen, daß entsprechend den Vollmachten das Wirtschaftsministeriums unseres Land für die Verwendung dieser Gelder keine Verantwortung trägt. Sollten Unregelmäßigkeiten vorgekommen sein, so hätten wir sicherlich davon erfahren.

 

Dr. Valeriy T. Pyatnytskiy, Jahrgang 1962, studierte an der Kiewer Schewtschenko-Universität und war dort seit 1985 als Dozent am Lehrstuhl für Wirtschaftskybernetik tätig. 1996 wechselte er ins Außenministerium. Seit 2005 ist er Vizewirtschafts- und Europaminister.

 

Foto: Erdgasanlage Solochowskoe nahe der ostukrainischen Stadt Poltawa: "Politik statt Ökonomie"

 

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